Texte

HL: Selbstauskunft, 2016

Katz & Maus

1976 sollten wir als Studenten der Dresdner Kunsthochschule mit unserer Unterschrift den Rauswurf von Wolf Biermann bejahen. In unserem Studienjahr haben nur die beiden Parteimitglieder unterschrieben, weswegen es Ärger und Repressalien gab. Im Zimmer des damaligen Rektors Fritz Eisel saß ich mehreren Stasi-Agenten gegenüber, die mir ins Gesicht sagten: „Wir wissen, dass Sie ein Staatsfeind sind, können es nur noch nicht beweisen …“
In diese Zeit fiel auch das große Sich-Finden und Experimentieren, auf der Suche nach meinem Weg als Künstler. Tägliches Zeichnen war selbstverständlich. Daneben machte ich mit dem Gitarristen Lothar Fiedler strukturelle Musik, spielte mit A. R. Penck und Michael Freudenberg in einer Malerband, experimentierte mit Super-8-Filmen, die ich teilweise übermalte, entwarf und druckte originalgrafische Bücher mit Gedichten befreundeter Poeten, aber auch mit Texten von Henry-Miller und Jacques Prevért.

Meine Super-8-Filme projizierte ich auf die Tänzerin Fine, malte live vor Publikum auf Overheadprojektoren und baute Objekte, die manchmal auch in der Öffentlichkeit gezeigt werden konnten: zB. beim Büchner-Projekt des Regisseurs Wolfgang Engel am Staatstheater Dresdner und in der mittlerweile legendären Ausstellung Dezennien I 1979, besser bekannt als Türen-Ausstellung im Leonhardi-Museum Dresden. Dort war ich auch in der Ausstellungsgruppe aktiv.
Jede Lücke, die im Druckgenehmigungsgesetz zu finden war, haben wir mit neuen Büchern und grafischen Werken genutzt. Das führte zu immer weiteren Verordnungen – die Gesetzeshüter rannten uns sozusagen hinterher. Am Tag des Freien Buches, dem 50. Gedenktag der Bücherverbrennung 1933, machte ich mit Freunden ein wirklich „Freies Buch“. Das führte ein Jahr später zu meiner Ausweisung. Genau am 10. Mai 1984, dem Tag, für den ich diese Aktion ein zweites Mal geplant hatte.

Heute klingt das Katz-und-Maus-Spiel amüsant, damals aber waren die Aktivitäten der staatlichen Organe existenzbedrohend.

Jürgen Schilling: Im Inferno, 2015

Helge Leiberg blickt auf eine langjährige Erfahrung hinsichtlich der visuellen Umsetzung literarischer Vorlagen zurück; seine druckgrafischen Folgen zu Themen der Weltliteratur sicherten ihm eine Aufmerksamkeit, die dem Interesse an seinem malerischen und plastischen Œuvre gleich kommt. Nun widmet sich ein umfangreicher, aus Gemälden und Zeichnungen bestehender Bildzyklus dem fesselnden ersten Teil des im frühen 14. Jahrhundert verfassten Versromanes Comedia des Florentiners Dante Alighieri, dessen Titel zu einem späteren Zeitpunkt durch das grenzenlose Bewunderung ausdrückende Adjektiv divina ergänzt wurde. Anders als die meisten bildenden Künstler, die sich mit diesem kulturgeschichtlich bahnbrechenden, über Jahrhunderte hinweg aktuellen Text näherten, indem sie einzelne Abschnitte des Werkes dem Wortlaut folgend illustrierten, bemächtigt sich Leiberg des Inhaltes auf andere Weise.

Bei seiner Interpretation des Inferno verwendet er zwar vorgegebene Motive, rafft und verdichtet das Geschehen jedoch und legt das Gewicht auf die atmosphärische Schilderung simultan erfasster Szenen. Sein Herangehen an den gewaltigen Stoff ist eher mit den auf assoziative Momente konzentrierten Darstellungen Robert Rauschenbergs oder Tom Phillips zu diesem Thema vergleichbar als mit den prominenten Illustrationen eines Botticelli, Blake, Flaxman, Koch, Doré oder Dalí. Dass die Erzählungen der Comedia – trotz ihrer vielfältigen inhaltlichen Entsprechungen zur Gegenwart – in der zeitgenössischen Kunst bislang kaum Widerhall finden, obwohl gerade das Inferno als underworld of death sowohl in der Jugendliteratur, in Romanen, den digitalen Medien oder in Filmen omnipräsent ist, muss erstaunen.

Der Titel des Versepos führt – aus heutiger Sicht – in die Irre, denn es handelt sich keineswegs um eine erbauliche Geschichte mit komischen Elementen, sondern um eine Abhandlung über Schuld und Sühne: Schauplatz der sich dramatisch entwickelnden Dichtung voller unerwarteter Ereignisse ist eine sich unter der Erdoberfläche weit in die Tiefe erstreckende terrassierte Höhle, welche Dante, geleitet von seinem literarischen Vorbild und Mentor, dem römischen Schriftsteller Vergil – Schöpfer der Aeneïs mit ihrer Beschreibung der Reise eines Sterblichen durch die Unterwelt – durchquert. Ihre fiktive Wanderung führt durch einen sich nach unten verjüngenden, aus konzentrischen Kreisen geformten Trichter, der tief ins Erdinnere bis zum Sitz des Teufels reicht. Kontinuierlich treffen sie in dieser jenseitigen Welt auf Schattenwesen, verdammte lebende Tote, Elendsgestalten, die aufgrund ihrer Sünden unaufhörlich schrecklichsten Torturen ausgesetzt sind. Kleriker, legendäre Gestalten und Politiker der Zeit finden sich ebenso darunter wie all jene, die sich zu Lebzeiten durch Wucher, Korruption, Ausbeutung, Verrat, Schmeichelei, Heuchelei, Wollust, Kuppelei, Betrug, Mord und Untaten aller Art, aber auch durch Indifferenz hervortaten und ihren Platz in den von üblem Gestank und ohrenbetäubendes Wehklagen erfüllten Höllenkreisen fanden. Die bildnerische Umsetzung ihrer Bestrafung und der damit einhergehenden Gräuel verlangen nach einer drastischen und expressiven Bildsprache.

Schon jene das Weltgericht darstellenden Fresken Taddeo di Bartolos im Dom von San Gimignano, Luca Signorellis im Dom von Siena oder Michelangelos in der Sixtina, bei deren Schöpfern man die genaue Kenntnis der Comedia voraussetzen kann, zeichnen sich durch eine stupende drastische Detailfreude aus, wie sie auch Helge Leibergs Zyklus aufweist. Seine vielfigurigen Kompositionen zeugen von einer überbordenden, an Dantes Sprachbildern sich entzündenden Phantasie. Er verwandelt jene langgliedrigen Figuren mit ihren unproportional kleinen Köpfen, die uns von früheren Werken vertraut sind, in unstete gespenstische Wesen, bündelt sie zu einem von entfesselten Dämonen dominierten feurig glühenden Knäuel, stürzt sie kopfüber in einen Felsenschlund, an dessen Grund ihre Leiber im Sumpf versinken, häuft ihre gequälten Körper, positioniert sie auf einer Klippe in langer Reihe, wo sie ihrer unausweichlichen Strafe zugeführt werden, dem Verglühen in den züngelnden Flammen der Vorhölle, in der – noch hat man tiefere Schichten nicht erreicht – die Rhythmen eine chiffrenartig ins Bild gesetzten Jazzband das makabre Spektakel begleiten.

Um auf verschlungenem und gefahrvollem Wege in die Bereiche des Jenseits herabsteigen zu können, müssen Dante und Vergil Hindernisse überwinden und Attacken von metaphorisch die Laster repräsentierenden Tieren und teuflischen Horden überstehen. Schließlich erreichen sie das Höllentor, den Eingang in das ewige Leid und zum verloren Volk. Eine angebrachte Inschrift raubt allen Eintretenden jede Hoffnung auf Erlösung und Rückkehr. Sie schließen sich wartenden Toten an und bitten den Fährmann Acharon, sie mit jenen über einen breiten Grenzfluss zu setzen, welches dieser jedoch mit Hinweis auf ihre reinen Seelen ablehnt. Sein Boot interpretiert Leiberg als in der Ferne sich abzeichnendes, von ornamental angeordneten, turbulent durch die Luft rasenden, in Auflösung begriffener Schattenleibern umkreistes Segelschiff – bzw. in einer parallel entstandenen Zeichnung als Kreuzfahrtschiff. Auf andere Weise gelingt Dante und Vergil sich der ewigen Finsternis zu Glut und Eis zu nähern. Bald begegnen die Reisenden dem Höllenrichter Minos, der den Verdammten den Platz ihres Leidens zuweist, eine Szene, die Leiberg von einer bizarren spinnenartigen Schreckensgestalt dominieren lässt, deren Kopf ein weißer Totenschädel ersetzt. Ihre vier Beine stehen auf einem rotem Schachbrettmuster, fünf Arme fahren erregt und beherrschend in den Raum; zu Füßen dieses Monsters bewegen sich kleine menschliche Körper, deren Gebärden von grenzenloser Verzweiflung sprechen.

Der Betrachter erlebt diese Situation gleichsam aus der Sicht des nackt im Vordergrund dastehenden Dante. Dessen Empfindungen angesichts ungezügelter Gewalt und unerhörter Qualen teilen sich auf Leibergs Gemälde unmittelbar durch Gesten des Erstaunens, seiner Verwunderung oder des blankem Entsetzens mit. Während der Maler den Protagonist zumeist ganzfigurig darstellt, wird Vergil mehrfach durch eine puppenhaftes Profil repräsentiert, welches in ein durchbrochenes monochromes Rechteck eingefügt und vom lebhaften malerischen Umfeld abgesetzt wird. Ähnliches gilt für die von Dante hymnisch verehrte Jugendliebe Beatrice, die zu einem späteren Zeitpunkt den Heiden Vergil ablösen und Dantes Führung auf dem Weg zu Reinigung und Neubesinnung hin zum Paradiso übernehmen wird. Deren stetige Präsenz in der Gedankenwelt des Autors wird durch eine weibliche Figurine in einer ebenfalls mehrfach repetierten Vignette angedeutet.

Leiberg folgt mit seinen Bildern gleichsam den von Dante und Vergil beschrittenen Rampen ins Geisterreich, um schließlich Luzifers Fratze ins Bild setzen zu können, nicht ohne zuvor
sämtliche Facetten des Bösen beleuchtet zu haben. Die Schichten seines Farbauftrags oder zur Unterstützung eines Lichteffektes collagierter Zeichnungen überlagern sich wie die beängstigenden Visionen des Poeten; wie dieser konstruiert Leiberg Rückverweise, Anspielungen, Querverbindungen und schafft somit Bezüge zu einer Gegenwart, deren Gesellschaft in nicht geringerem Maße korrupt, gierig, verlogen und gewaltbesessen ist wie diejenige, welche Dante vor Augen hatte. Lässt die Dichtung ihre Protagonisten sich im Wald bewegen, schafft Leiberg eine Konstellation, in welcher die Bäume sich in Hochhäuser verwandeln, aus denen Menschen in den Tod stürzen – ein Hinweis auf die New Yorker Terroranschläge im September 2001 – und auf jenen Leichenbergen landen, die einmal als ein Symbol unserer Zeit gelten könnten. Auch die im neunten Höllenkreis beschriebene Episode, welche die Begegnung mit dem dreigesichtigen ekstatischen Teufel im Eissee zeigt, der drei Erzverräter, Judas, Cassius und Brutus, gleichzeitig verschlingt, birgt einen Hinweis auf das Jetzt, denn das im oberen Bildbereich eingefügte Fragment der Weltkugel, von der herab die Missetäter in die Fänge des Teufels stürzen, ist den Höllenflammen gefährlich nah. Wir sehen Dante und Vergil diese Szene aus einem primitiven Kasten beobachten, an dem oben ein Seil befestigt ist, so dass naheliegt, an einen Aufzug zu denken. Durch einen Schacht gelangen beide durch eine runde Öffnung nach oben. Dann traten wir hinaus und sahen die Sterne, berichtet der Dichter zum Abschluss seiner Höllenfahrt, bevor er zur nächsten Station seiner Reise, dem Läuterungsberg, aufbricht.

Helge Leiberg veranschaulicht Dantes inspirierende Abenteuer und ihre Schauplätze auf seine Art: kompakt gebündelten Farbmassen werden rasch niedergelegt, Architekturen und Körper von Tätern und Opfern definierende Strichfolgen hinzugefügt; aus knappen Bildzeichen entwickeln sich Strukturen, die einerseits individuelle Handlungen und Emotionen beleuchten und zugleich Allgemeingültigkeit beanspruchen. Auf seiner Bildbühne entwickelt Leiberg aus einem Fundus jäh aufscheinender Ideen, Erinnerungen und literarischer Anregungen ein komplexes, groteskes und bisweilen mystisch erscheinendes Welttheater.

Während die Gemälde nicht nur inhaltlich, sondern auch formal dicht und tektonisch stabil angelegt sind, sind die begleitenden Zeichnungen offener, luftiger und insofern im Stil früherer Kompositionen Leibergs konzipiert. Sie thematisieren einzelne Begebenheiten der Comedia und haben eher als die Gemälde den Charakter illustrativ den Text begleitender Bilder. Auf den mit wenigen reinen und leuchtenden Farben, vorwiegend Rot, Blau und Schwarz ausgeführten Blättern vermittelt der Künstler ein Gefühl von Tragik, Beängstigung, Rausch, Sinnlichkeit und pointiert eingesetzter Energie, die der Rasanz der malerischen Geste entspricht. Offener Raum und Körper, Gestaltung und Leere durchdringen sich auf der weißen Papierfläche.

Leiberg erfindet immer neue Konstellationen, reißt Dantes Themenkreise metaphorisch an oder findet mit seinen turbulent agierenden Figurengruppen zu bildfüllenden Arrangements. Tragische Motive wie Grausamkeit, Ohnmacht und Ausgeliefertsein tauchen hier erstmalig in Leibergs Bildkosmos auf, dagegen war in seinen Schöpfungen der personifizierte Tod als leibhaftige Erscheinung oder unsichtbarer Begleiter stets präsent, bereit, unvermittelt, unvorhersehbar und unausweichlich ins pulsierende Leben einzugreifen. Der Auseinandersetzung mit der Comedia verdankt Leiberg Anregungen zu einer profunden Recherche, die Anstoß zu außergewöhnlichen und packenden Transpositionen bietet.

Martin Stather: Horizontbeobachter, 2015

Herr Palomar geht einen einsamen Strand entlang. Vereinzelt trifft er auf Badende. Eine junge Frau liegt hingebreitet im Sand und sonnt sich mit nacktem Busen. Herr Palomar, ein diskreter Zeitgenosse, wendet den Blick zum Horizont überm Meer.
(Italo Calvino: Herr Palomar)

Mit der menschlichen Beobachtung ist es ein verzwicktes Ding: das Naheliegende übersieht man gerne, dafür schweift der Blick zum Horizont. Was wohl dahinter liegen mag? Neugier und Forscherdrang (nicht zu vergessen: Gewinnstreben) haben im 16. Jahrhundert Wagemutige in ferne Länder geführt, Kontinente wurden neu entdeckt und erschlossen. Die Neugier auf das Fremde war groß, aber eigentlich war man gekommen, um die Heimat in die Fremde zu exportieren. Mit Schwert und Kreuz wurden die „Wilden“ zur eigenen Religion und Lebensart bekehrt und wer nicht wollte, dessen Leben nahm ein Ende. Wer in die Fremde reist, hat das Selbst immer mit im Gepäck. Oft ist das Verreisen heute nur gut um sich zu gruseln und hernach zu konstatieren: zuhause ist doch alles besser (wenn auch nicht billiger).

„Go West!“ war der Schlachtruf der Siedler in Nordamerika. Die Ureinwohner wurden flugs abgeschlachtet oder in Reservate eingepfercht. Mit Schiffen aus Holz kamen die Siedler übers Meer und gedachten, es sich in der neuen Heimat gemütlich zu machen, da sie in der Mehrzahl in der alten Heimat keine Zukunft hatten. Die Beobachtung des Horizontes war wichtig, konnte man doch so frühzeitig Gefahren, die dort heraufzogen, erkennen. 

Auch Helge Leibergs „Horizontbeobachter“ beobachten aufmerksam die Ferne; mit Hilfe eines Fernglases, indem die Augen beschattet werden, im Sitzen, Stehen, Gehen. Keiner beachtet, ganz wie der diskrete Herr Palomar, die Nackte im Vordergrund. Wir alle kennen diese männlichen Strategien: möglichst nahe am Objekt der Begierde sein, aber gekonnt Desinteresse heucheln. Leibergs „Horizontbeobachter“ übersehen das Naheliegende gezielt, um sich demselben etwas später nur umso intensiver zu widmen.

Allerdings – überlegt er, während er weitergeht und, kaum dass der Horizont wieder klar ist, die freie Bewegung seiner Augäpfel wieder aufnimmt – wenn ich mich so verhalte, bekunde ich ein Nichthinsehenwollen, und damit bestärke am Ende auch ich die Konvention, die den Anblick des Busens tabuisiert, beziehungsweise ich errichte mir eine Schranke, eine Art geistigen Büstenhalter zwischen meinen Augen und jenem Busen, dessen Anblick mir doch … durchaus frisch und wohlgefällig erschien.
(Italo Calvino: Herr Palomar)

Was für Bocksprünge die Menschen zur Paarungszeit machen! Amüsant ist das, nur allzu menschlich und trotzdem immer wieder neu. Helge Leiberg ist als Künstler selbst so eine Art Horizontbeobachter, dazu Feldforscher auf dem Gebiet menschlicher Leidenschaften. Die Dualität des Lebens im Apollinischen und Dionysischen, die Verbindung rauschhaften Seins mit der Reflexion des Geistes in all seinen Spielarten interessiert den Künstler seit jeher – und was gäbe es Interessanteres zu beobachten. Nicht mit der Botanisiertrommel des Liebhabers seltener Exemplare ist er unterwegs, ihn fasziniert das ganz gewöhnliche Leben, das mitunter mehr zu bieten hat als das Ausgefallene. Die Verbindung von Malerei und Literatur ist ein gewichtiger Eckpunkt in seinem Schaffen. Leibergs immer stets auf den verdichteten Gehalt zielende Illustrationen vieler Klassiker (etwa Das Hohe Lied des Salomen, um nur eines zu nennen), aber auch im malerischen Dialog mit neuerer Literatur und Lyrik, sprechen von reiner Sinnenfreude, tiefster Verzweiflung und vom immerwährenden Reigen eines Lebens, das es zu feiern gilt. Die freie Kunst steht dem in nichts nach. Die Arbeit „Rotation“ mag hierfür als ein schönes Beispiel gelten. Die Licht- und Schattenseiten des Lebens schlaglichtartig und prägnant zu beleuchten, darin ist Helge Leiberg ein Meister, ohne dabei den Humor zu verlieren. Stundenlang am Stück könnte man den Leuten zusehen und was findet man am Ende? Natürlich sich selbst.

Schauen Sie mindestens 60 Sekunden unbeirrbar geradeaus und erleben Sie sich als Teil des Horizontes, der sich Ihren Augen Täglich erneuert.
(Radjo Monk: Stellung Horizont)

Spontan und leichtfüßig kommen die Malereien daher, gestisch und voller Tempo, die Figuren und das Drumherum auf das Wesentliche hin verkürzt. Das täuscht leicht darüber hinweg, dass Leibergs Malerei in philosophischen Tiefen wurzelt, diese verkürzte Form die Dinge in einzigartiger Weise auf den Punkt zu bringen vermag, eine beinahe emblematische Verdichtung erreicht. Großartig sind die Figuren seines Welttheaters mit ihrer expressiv überhöhten Gestik, die aus den verlängerten Gliedmassen erwächst. Im wahrsten Sinn des Wortes wachsen seine Figuren über sich hinaus, drehen Pirouetten und vollführen Sprünge wie weiland Neil Armstrong auf dem Mond. Elegant und verführerisch ziehen sie uns mit – was bleibt uns schon anderes übrig?

In Kapillarien, einem Land auf dem Grund des Meeres, leben ausschließlich Frauen, die sich selbst fortpflanzen, sogenannte Oihas, schöne und majestätische Wesen, fast zwei Meter groß mit engelhaften Zügen, weichen Körpern und langem blonden, wolkenförmigen Haar. Die Haut der Oihas ist seidig und durchscheinend wie Alabaster; dank ihrer Transparenz erkenn man die Knochen des Skeletts, die blauen Lungen, das rosa Herz, das ruhige Pulsieren der Adern.
(Italo Calvino: Der Archipel der imaginären Orte)

Eine Frau sitzt in einer halbkreisförmigen Schaukel. Ein Mann stemmt sich gegen die Schaukel, versucht, diese zu bewegen und erreicht doch immer nur ein Vor und Zurück. Auch dies ein Bild ewig gültigen Seins – die Bewegung ist mehr oder weniger imaginär, das Pendel schlägt immer wieder zurück. Sisyphos muss stets den gleichen Weg von vorn beginnen, so lange, bis er es endlich begreift: der Weg ist das Ziel. In ihrer Reduktion werden die Darsteller auf Leibergs Bildern zu einer allgemein gültigen Metapher des Lebens, in der Gestaltung gelingt es dem Künstler auf einzigartige Art und Weise, dem Leben seine ureigensten Qualitäten zu entlocken und auf die Leinwand zu bannen. Wir träumen uns in ein Leben voller Schönheit hinter dem Horizont. Und bleiben, wo wir sind.

Christiane Bühling: Poesie & Pose II, 2012

Springen
Stolzieren
Staksen
Spazieren
Spreizen
Streiten
Schleichen
Stürmen
Schlawenzeln
Stampfen

Tanzen
Trompeten
Tollen
Taumeln
Trampeln
Turteln
Tätscheln

Dies sind einige Wortnoten aus der Bild- und Zeichenwelt von Helge Leiberg zur Einstimmung in seine eigenwillige Bildsymphonie. Diese Reihung ließe sich beliebig fortsetzen, denn die Ausdrucksformen der Leibergschen Figur sind unendlich, er gewinnt seiner schwarzen entindividualisierten Silhouette immer wieder neue Bewegungsabläufe ab. In der Bewegung entdecken, erforschen und suchen die Figuren sich selbst, sie suchen nach Erkenntnis, nach Veränderungen, aber auch nach ihrem Platz in der Gemeinschaft, im Ganzen  Allein oder als Paar loten sie Handlungsspielräume aus. Manchmal sind sie einfach nur glücklich, verlieren sich im Tanz, andere Male wird gekämpft und gerungen.

Viel ist geschrieben und geredet worden über Leibergs dynamisch-vitales Bildtheater, das sich von schwarz-weiß Bildern zu in farblich kräftigen Bildhintergründen gestalteten Arbeiten entwickelt hat. In großen Retrospektiven sind diese Arbeiten in den letzten Jahren gewürdigt worden. Ebenfalls bekannt ist sein multimediales Wirken, seine Affinität zu Tanz und Musik, auch seine Beschäftigung mit Literatur, nicht nur von zeitgenössischen Dichtern wie Christa Wolf, sondern auch von Schiller und Shakespeare. Zahlreiche Künstlerbücher sind in den letzten Jahrzehnten entstanden.

Die Ausstellung „Bewegtes Leben“ würdigt die Zeichnung als eigenes Segment, denn sie ist die Wurzel bzw. das Fundament von Helge Leibergs künstlerischer Entwicklung. Er begann in diesem Bereich,  bevor er sich der Leinwand und seit einigen Jahren auch der Skulptur widmete.
Zeichnung bedeutet auch heute für ihn nicht Skizzen für große Bilder, sondern sie ist immer ein ganz eigenständiger Bereich in seinem künstlerischen Schaffen geblieben.

Schrift, Grafik, Zeichnung sind in ihrem Ursprung etwas ganz nah beieinander Liegendes, man erinnere sich z.B. an die Kalligraphie der asiatischen und arabischen Tradition. Zeichen und Zeichnen sind sich nicht nur sprachlich sehr ähnlich und nah, Leibergs schwarze Figur mit ihren überdimensionierten Extremitäten, die so gut wie nie individuelle Züge trägt, ist auch ein gezeichnetes Zeichen.

Häufig werden Zeichnungen in großen Ausstellungen in einem Kabinett gezeigt, in kleinen Räumen, Nischen, die Ruhe und Schutz versprechen,  sowohl für die Arbeiten als auch für den Betrachter. Ein Höchstmaß an Intimität bestimmt auch das Verhältnis des Künstlers zu seiner Zeichnung. „Hier komme ich mir selbst am nächsten“, so Helge Leiberg selbst. Diese Unmittelbarkeit fasziniert auch seine Künstlerkollegin Cornelia Schleime: „ Es bedarf eigentlich überhaupt keiner Anstrengung, diese Zeichnungen sind in mir, es fließt.“

Fließen tut es auch in Leibergs Papierarbeiten, wobei sein Pinselfluss, der unmittelbar der Intuition entspricht, häufig eher ein reißender Strom zu sein scheint. Er bricht aus dem vorgegebenem Flussbrett aus, der Pinsel wird ausgespritzt, Geist, Energie, was immer es sein mag, drängt aus ihm heraus, überschreitet die Grenzen der strengen Linie. Immer eleganter und leichter sind die Figuren im Verlauf ´der künstlerischen Entwicklung geworden, immer wendiger, aufgelöster und sicherer.  Immer gewagter, aber auch ausbalancierter und stabiler werden ihre Bewegungen. Sie vermögen auf nur einer Zehe zu stehen und trotzdem strahlen sie mehr Stabilität und Sicherheit aus als mancher auf zwei Beinen Stehender.

Neben den sehr klassisch anmutenden Zeichnungen von schwarzen und roten Figuren, die in die weiß bleibende Fläche gesetzt werden, gibt es in der Serie „Babylon“ sowohl eine formale als auch inhaltliche Variante. Die sonst vorwiegend positive Lebensenergie, die seinen Papierarbeiten innewohnt, weicht hier Bedrohlichkeit und Düsternis. Zur Zeit des Irakkriegs entstanden, drücken sich hier die Schattenseiten des Daseins in den Vordergrund. Die Hintergründe sind ausgesprochen malerisch. Der trüb schwarz-rote gemalte Untergrund verstärkt das Gefühl von Grauen und Verzweiflung. Die Hochkultur des Zweistromlandes ist bedroht.

„Ich habe die Zeichnung nie als eine besondere Geschicklichkeitsübung betrachtet, sondern stets als Mittel feinste Schwingungen der Seele zu beschreiben, [als Mittel,] um mehr Einfachheit zu geben, Ausdruck vom Ursprung her, der ohne Schwere unmittelbar in den Geist des Betrachters eingeht.“Dieses Zitat von Henri Matisse beschreibt in einzigartiger Weise die Besonderheit der Zeichnung, welche Helge Leiberg im Laufe seiner Karriere nie vernachlässigt, sondern sich durch sie immer wieder den Tönen der innersten Stimme, die unverfälscht und unverbraucht spricht, gewidmet hat. Der Seele des Künstlers, aber auch unserer eigenen, vielleicht sogar der Seele des Daseins schlechthin können wir deshalb in der Zeichnung und ihrer Unmittelbarkeit ganz nahe kommen. Im Spannungsbogen zwischen Kraft und Zerbrechlichkeit zeigt sich die Vielseitigkeit des Lebens.Lassen wir uns darauf ein, bewegen wir uns, geistig, emotional, körperlich, laut und leise, lassen die unterschiedlichen Schwingungen seiner Figuren in uns eindringen und Teil seines symphonischen Menschentheaters werden. Die Anregungen,  die wir hierfür im zeichnerischen Werk Helge Leibergs bekommen, könnten reichhaltiger nicht sein.

Sonja Traar: Zu „Darlings”, Galerie Frey, Wien, 2007

Der 1954 in Dresden-Loschwitz geborene Künstler Helge Leiberg umschließt in seinem Schaffen den expressiven Ausdruck der menschlichen Figur in tänzerischer Bewegung. Sowohl seine Tuschezeichnungen und Leinwandarbeiten als auch seine Bronzeskulpturen zeigen Figuren mit überlangen Gliedmaßen, die sich teilweise in ekstatisch überdehnter Haltung zu einem imaginären Rhythmus bewegen. Dies trifft speziell auf die Zeichnungen zu, in denen die Hitze wilder Bewegungen in farblichen Explosionen ihren Niederschlag findet. Die mageren, fast fleischlosen Körper scheinen den Wunsch nach inniger Verbundenheit auszukämpfen, indem sie sich immer wieder annähern, sich wild umtanzen, sich mit ihren skelettartigen überlangen Findern zu greifen versuchen. Selten kommt es tatsächlich zu einer Berührung, die gleichsam erlösend wirkt. In den Tuschezeichnungen sieht man auch einzelne Figuren, deren Köpfe zu explodieren scheinen, deren Gliedmaßen sich in der vollkommenen Hingabe zum Tanz auflösen und abstrakte Formen annehmen. Doch in all der lebensbejahenden Agilität, in der vor Freude an Tanz und Fest hingerissenen Lebendigkeit, schleicht sich das Sinnbild des „Dance macabre“, des Totentanzes ein, die Darstellung von Menschen, die einen Reigen mit den Toten tanzen, von denen sie gepackt und weggerafft werden. Es sind vor allem der skelettartige Charakter, die mystische Geisterhaftigkeit der stilisierten, gesichtslosen Gestalten sowie ihre über alle Maßen ekstatische Haltung, die dieses Bild hervorrufen. Der Künstler hat sich in seinem Schaffen bereits öfter mit dem Totentanz auseinandergesetzt, Ausstellungen mit diesem Thema gab es unter anderem 1989 und 1991 in Berlin sowie 1994 in Hamburg.

Die Arbeiten von Helge Leiberg sind nicht ohne ihren musikalischen Hintergrund zu verstehen. Der Künstler spielte selbst Ende der 1980er Jahre in einer Malerband freier Musik (mit Michael Freudenberg und A.R. Penck), wo die Wechselwirkung Musik-Malerei untersucht wurde. Die Jazzmusik, besonders Miles Davis – zwischen „Somethin’ Else“ und „Bitches Brew“, wirken auf ihn gewaltig und beeinflussen sein Schaffen. So sehen auch wir in zahlreichen Bildern Saxophon- und Trompetenspieler, die die musikalische Bühne für die tanzenden Figuren schaffen. Dabei geht es um Improvisation, freie, teilweise lyrische, dann wieder extrem verdichtete Tonfolgen, die höchsten gestischen Ausdruck sowohl der Spieler als auch der Tänzer hervorrufen.

Trotz dieser Gegenwärtigkeit, die sich in die Ewigkeit zu projizieren scheint, vermitteln die Figuren etwas Archaisches, Mythisches. Sie könnten vor tausenden Jahren an die Wände von Höhlen gemalt worden sein. Das liegt auch daran, dass die Bildsprache der Figuren von Helge Leiberg eine der urältesten, im Menschen zutiefst verankerten und über alle Generationen, Kulturen und Zeitalter hinaus verständlichen bildlichen Umsetzungen des Menschen ist. Die Figuren drücken einen Moment des Seins aus, der die Grenze des Todes berührt, sich aber in einer ewigen, für alle Zeit festgefrorenen Augenblicklichkeit manifestiert. Auch aus diesem Grund berühren uns die Arbeiten des Künstlers, der Blick in unser innerstes, ungeschöntes Menschsein wird geöffnet.

Die Bronzeskulpturen des Künstlers sprechen eine ähnliche Sprache, drücken das Anliegen des Künstlers allerdings auf noch radikalere, konzentrierte Weise aus. Ohne den farblichen, flockigen Hintergrund, der in den Bildern auch die Farbskalen eines Vulkanausbruchs annehmen kann, umfängt die Bronzefiguren ein lyrischer, epischer Moment. Etwa die Figur „Albatros“ aus 2006 zeigt bei allen Extremen der gespreizten Bewegungen einen Augenblick der Stille. Die Figur scheint in im Moment ihrer höchsten Spannungsgeladenheit eingefroren, der Kopf ist nach unten gesenkt. Sie scheint in sich und ihrer Bewegung abgeschlossen, vollendet, und ganz auf den ewigen Klang konzentriert. Die Figur „Hilde“, ebenfalls aus 2006, scheint sich nun fast entspannt zu den Tönen zu wiegen, grazil streckt sie ihre Arme übereinander, die überdimensionalen Hände öffnen und schließen den umgebenden Raum. Schon anders zeigt sich das „Innige Paar“: In einer komplizierten Bewegung umschlungen, im Moment der geschlechtlichen Vereinigung, scheinen die Bewegungen aufgewühlt, stark expressiv, was durch die Unebenheit der Oberfläche, die aufgekratzt erscheint, noch gesteigert wird.

So finden wir in den Werken des Künstlers zwei Pole, zwischen denen sich sein Schaffen bewegt. Auf der einen Seite das Leben, die Hitze und Vitalität der Bewegung, die scheinbar nie endende Kraft und den Lebenswillen des Menschen, der sich in Hingabe zum Tanz am allerdeutlichsten veranschaulicht. Auf der anderen Seite den Moment der Stille, des in sich Versunken-Seins für einige Augenblicke, das Sinnieren über die lyrischen Töne und das Innehalten, im Bewusstsein der Vergänglichkeit. Es ist nicht zuletzt die Liebe, und ihr Gegenspieler, der Tod, die hier miteinander ringen. Der Titel der Ausstellung „Darlings“ bezieht sich nochmals auf die „Lieblinge“, Figuren, die ihre Lieblinge erkannt haben und sich tänzerisch, trotz ihrer Hagerkeit mächtig und kampfeslustig positionieren, um sich letztendlich füreinander zu gewinnen – manchmal gelingt dies.

Christoph Tannert, 2007

„Augen auf !!“ lautet der Titel dieser Ausstellung.

Der Berliner Helge Leiberg präsentiert in mehreren Werkgruppen Bilder zum Hingucken, Emblematisches, Malerei zur Verschiebung der Wahrnehmung. Es sind Konfigurationen, die den 2. Blick erfordern, das nochmalige Hinsehen, denn Leiberg operiert mehrheitlich im Hintergründigen. Anders als die pseudokabarettistischen Windmacher der Amüsiergesellschaft tut er das in hysteriefreier Lautstärke, abseits des Phrasenmiefs der hohlen, durch TV und Medien verstreuten Blubber-Geschichten. Doch „Achtung!“ – Leiberg malt weder für Randgruppen, die ihr Leben lang ihre Differenzen zur Gesellschaft performen müssen, noch um die blinden Flecken im politischen Repräsentationstheater zu bereinigen.

Leiberg bereitet den Augen ein Fest, in dem der Betrachter sich unversehens in einen Dialog mit Mythischem, Erotischem und Religiösem verwickelt sieht und verstrickt in komplexe Erwägungen zur Mechanik des Begehrens.

Daß Leiberg auf dem Plakat zur Ausstellung einen Perkussionisten auftreten lässt, verweist überdies auf Leibergs Interesse an Jazz und am Improvisatorischen. Satanische Engel in der Bar, Keyboarder, Bassisten, Saxophonisten, Tänzerinnen und ihr Publikum sitzen zusammen mit dem Künstler in der Jazz-Hölle, die ihr Paradies ist, eben weil dort die Luft brennt, wenn Cecil Taylor, Miles Davis, Charly Parker oder John Zorn, die persönlichen Favoriten Leibergs, auftreten.

Jahrelang hat er in diversen musikalischen Gruppen Trompete und Flügelhorn geblasen, eine nicht unbedeutende Zeit zusammen auch mit A.R.Penck. Er gehört einer Künstlergeneration an, die, aufgewachsen im Osten Deutschlands, Anfang der 80er Jahre rausgeschmissen, sich ihre Freiräume selbstbewusst erstritt und Teil einer Internationale gegen Intoleranz war, ist und wohl auch bleiben wird. Leibergs Form ist die frei schwingende musikalische Form. Von strammer Haltung hält er nichts. „Hört die Signale!“

Das Bild „Bitches Brew“ (von 2005) bezieht sich direkt auf das gleichnamige Doppelalbum von Miles Davis von 1970, dessen Veröffentlichung die Welt aus den Angeln hob. Das war Musik aus einer anderen Welt und bisweilen gar von funkelnder Bösartigkeit, die, als Pendant zu den Rolling Stones auf dem anderen Ende der Skala, das Lebensgefühl einer ganzen rebellischen Generation entscheidend mitprägte, ehe auch sie in den 80er und 90er Jahren peu à peu dem Zeitgeist des schicken Scheins weichen musste.

Davis hat die lyrischsten Soli der Jazz-Geschichte geblasen und die wüstesten Attacken gleichermaßen. Bis heute steht er nach innen wie außen als Synonym für den Jazz schlechthin.
Leiberg malt sein Gefühl, das den frei fliegenden Miles-Davis-Ton zu treffen versucht und in fallenden Soundbällen und Klangschichtungen gleichzeitig in Erinnerung ruft, dass Miles Davis Genie und Kotzbrocken zugleich war, aber auch, dass Risse in einer Persönlichkeit so etwas wie die Grundvoraussetzung für das sind, was große Künstler der Welt als dauerhaftes Vermächtnis schenken.

In „Halali“ (ebenfalls aus dem Jahr 2005) versteckt sich möglicherweise eine Persiflage auf die weißen Trompeter. In einer zweiten Deutungsebene könnte Bezug genommen werden darauf, dass Leiberg als 12-jähriger Knabe im Wald von Oberloschwitz Trompete geblasen und nach streng geführter Lehrstunde häufig seinen Frust ausgelassen hat, was eines Tages zu einer Begegnung mit einem Rehbock führte, der aufgrund wilder Improvisationen des Jungtrompeters erschreckt aus dem Gehölz brach. Ein mit Sicherheit traumatisches Erlebnis für den Zukunftsbock.

Bis heute hält Leiberg daran fest, nicht-erzählerisch und nicht-illustrativ zu arbeiten, eher konträr und ohne Geplänkel, aber in Spannungsbögen. Er ist interessiert an den Zonen der Unbestimmtheit, die entstehen, wenn mentale und manuelle Gewohnheiten zerlegt werden. Ohne eine Einengung auf irgendein philosophisches Korsett, setzt er Bewegung gegen feststehende Entitäten. Seine auf wenige Wischer verknappten Tanzfiguren mit den weit in die Welt ausgreifenden Armen und Beinen sind Phasenbilder eines übergeordneten Suchens nach immer neuen Stimmungssätzen und Konnexionen.

Helge Leiberg steuerte konsequent in alle Richtungen. Seine Arbeit verteilte sich auf Zeichnungen und Bilder, Künstlerbücher, Improvisationsmusik sowie Filmexperimente. Das sog. ”Noisepainting” mit klanggestützten Projektionen, für die Live-Pinselzeichnungen auf Overheadfolien den Ausgangspunkt bilden, ist Leibergs Erfindung für Bild-Klang-Spektakel, die er bereits vor mehr als 25 Jahren in Dresden vorführte, anfangs noch mit weit geringerem Technikeinsatz, heute u.a. in der Zusammenarbeit mit der Gruppe GOKAN. Seine Live-Projektionsmalerei war integraler Bestandteil von Performances wie ”ReJoycin” (aufgeführt 1991 anlässlich des 50. Todestages von James Joyce) oder der Oper ”Der Meister und Margarita” des russischen Komponisten Sergej M. Slonimsky nach dem berühmten Buch von Michail Bulgakow, erarbeitet für den Deutschen Pavillon auf der Expo 2000 in Hannover. Leiberg bediente dort sechs Overheadprojektoren gleichzeitig. Seine zeichnerischen Eingriffe brechen Abläufe, kommentieren, befragen und verwandeln das Stück und schaffen mit diesen Fluchtlinien eine sich in ständiger Transformation befindliche Aufführungspraxis, die auch heutzutage im etablierten Theater selten ist.

Von dieser tänzerischen Lebendigkeit der Linie wird auch Leibergs Malerei belebt und getragen. Lässt man sich Leibergs Bildtitel auf der Zunge zergehen, wird man im bildnerischen Unterfutter einer Energiepackung aus schwarzem Humor, lebenserprobtem Lakonismus und hartgesottener Schonungslosigkeit gewahr. Leibergs Bilder jubilieren, heulen und rumpeln, dass es eine Wonne ist. Also. Schauen Sie 2x hin und ergötzen Sie sich – mal am Drive, mal am bluesigen Stolpern.

Die hiesige Ausstellung versammelt sechzig Bilder in neun Räumen. Außerdem sind vier, das Thema „Bewegung“ befragende Bronzen, zu sehen. Damit bringt die Ausstellung die komplette Produktion der vergangenen fünf Jahre zur Anschauung.

Das Bilder-Konvulut gliedert sich in drei gewichtige Gruppen: In vier Bilder des „Adler-Bild-Zyklus“, in vier sog. „Torsi“-Bilder sowie acht Bilder eines vor etwa 10 Jahren gestohlenen (auf glückliche Weise weitgehend wiederbeschafften Komplexes von 30 Leinwänden, 3 Malerbüchern und gut 500 Zeichnungen), der jetzt den Titel trägt „Diebesgut / geklaut und zurück“.

Darüber hinaus werden weitere wichtige Bilder seit 2001 gezeigt, Leibergs „Apokalyptische Reiter“ (eine Antwort auf die tränenselig hysterische Melodramatik dieses Jahrzehnts), außerdem Bilder, mit biblischen Bezügen in unerwarteten Deutungen, Jazz- und Musikbilder, Bilder mit gestikulierenden Händen, dazu noch ganz neue Leinwände, je 50 x 50 cm groß, die eine erotische Serie ergeben und für die Nischen des Turmzimmer geschaffen wurden, in klassischem Ausdruck Leiberg’scher Mehrstimmigkeit.

Der Einbruch der Lust und deren moralische Abwehr vollziehen sich gleichzeitig in ein und demselben Körper, in ein und derselben Seele. Leibergs Erotik ist subtil durchdacht. Der schöne Klang, die mehrfache Bedeutung. Romanze als die lyrisch-epische Linie, als die ästhetische Form herzrasender Bewegung und nicht zuletzt als der flotte Strich, der ein Techtelmechtel aufdeckt, eine zarte Lovestory rechtzeitig vor der Überpinselung rettet. Leiberg weiß, wann ein Bild zum Höhepunkt kommt und wann er unterbrechen muss. Die Spiele des Begehrens rücken dabei in eine Komplexität vor, in der Lust, Begehren, Sichbewegen und Totentanz in einen Zusammenhang treten.

Leiberg führt uns mit dem sicheren inszenatorischen Griff, den all seine Bilder auszeichnen, ein in herrlich skandalöse Liebesgeschichten, herz- und mäulerzerreißende Affären. Leiberg holt uns aus der Versunkenheit. Er betreibt so etwas wie künstlerische Mund-zu-Mund-Beatmung. Er ist der Virtuose einer Nähe, die etwas Hypnotisches hat. „Komm. Komm. Augen auf!“, lautet seine Beschwörungsformel.

Das Springen, Herumwirbeln, Irgendwo-Hinfallen, der schmale Grad zwischen Geworfenheit und Flucht, atemloser Mitteilung und Verlorensein der Figuren ist direkt gebunden an den Ausfluss der Farbe. Ob dünnflüssig linear-zeichnerisch oder bis zum Relief verdickt-malerisch, stets ist es die heftige Bewegung des Pinsels, die den Dauerzustand eines Lebensgefühls charakterisiert: jenes Gefühls des Abstrampelns und Abtanzens, um Herauskommen aus der Zumutung, aus der Negativität.

Leibergs Tänzerinnen, Akte, Paare, Reiter befinden sich, alles in allem, in einer aktiven und zukunftsoffene Rolle. Serien von Händen und Figuren, Körpern und Figuren vor rein-weißen oder auf aufgewühlten, stark farbigen, lodernden Leinwanduntergründen sind an den Leib gerichtete Produkte, die im Zeitalter der Silikon-Sirenen ganz ohne schlüpfrige Verheißungen auskommen und uns berühren durch die gelungene Symbiose von Gemaltem und Gezeichnetem, die uns vorführt, wie der Geist Fleisch wird.

Christoph Tannert: Über Wertverschiebung und malerische Hymnen, 2006

Schon der Titel der Ausstellung von Helge Leiberg sagt das Wichtigste: CODEX – es geht um Bilder, die in einer Zeit der tagtäglichen Werteverschiebung, ja manche beklagen sogar einen Werteverfall, nach Wertorientierungen fragen, etwa auch nach einem christlichen Kanon.

Die Deutschen sind, kalendarisch gesehen, ein frommes Volk. Ostern, Pfingsten, Weihnachten – zwischen 9 und 13 gesetzliche Feiertage, je nach Bundesland, stehen im Kalender. Und bis auf den 1. Mai und den 3. Oktober entstammen sie christlichem Brauchtum.

Doch der fromme Schein trügt. Den Kirchen droht ein Absturz in die Bedeutungslosigkeit: Den Hirten laufen ihre Schäfchen davon, die christlichen Werte verfallen zusehends. Moral ist mehr denn je Mangelware. Die von TV-Sendern aus kühlem Quoten-Kalkül betriebene „Debilisierung“ („taz“) des Publikums mittels Sex and Crime zeigt deutlich nachteilige Wirkungen in Bezug auf Kinder und Jugendliche. Heute beweist schon Charakter, wer jeden Tag auf eine schlechte Tat verzichtet. Welche ethischen Standards gelten noch? Lohnt es sich, Prinzipien zu haben in einer Zeit, in der der Egotrip als Königsweg gepriesen und Steuermogelei zum Volkssport wird? Diese moralische Kälte, diese Gleichgültigkeit ist für viele, die sich voller Enthusiasmus auflehnen gegen den Trend zur Entsolidarisierung, ein Schockerlebnis. Hoffnungslosigkeit macht apathisch.

Leibergs Bilder kommen von der anderen Seite der Gefühlsdisposition. Sie sind voller Engagement, ohne agitatorisch zu sein. Er weiß: Jemanden aufzurütteln, ist fast unmöglich. Die allgemeine theoretische Einsicht, daß Böses auf dem Planeten geschieht, rührt heutzutage niemanden mehr an.

Nur noch vier der Zehn Gebote der Christenheit wurden vor 15 Jahren von nahezu allen in Deutschland lebenden Frauen und Männern als „wichtig“ eingeschätzt. So hielten es erheblich mehr Bundesbürger für bedeutsam, ihre Eltern zu ehren als ihrem Partner treu zu sein. Am meisten Zustimmung fand laut einer Emnid-Umfrage für SPIEGEL special von 1999 das Fünfte Gebot. „Du sollst nicht töten“ war für 97 Prozent der Bürger über 18 Jahre eine „wichtige“ Maxime der christlichen Ethik. Die Zustimmung erfolgte unabhängig vom Alter und vom politischen Standort – mit Ausnahme der Anhänger der Republikaner, von denen lediglich 64 Prozent das Gebot für wichtig hielten.

Folgt man den Modemachern, ist die Verlotterung der Sitten längst gestoppt. Bereits die Herbstmode 2003 zeigte deutlich mehr „Angezogenheit“ im Zeitalter der Bauch-frei-Girlies als alle Knappklamottenentwürfe zuvor.

Und auch andernorts mehren sich die Anzeichen, daß sich immer mehr Zeitgenossen gegen Tabugrenzenverschiebungen wie fatalistische Hinnahmebereitschaft wehren wollen und versuchen, die kollektive Lähmung angesichts des allgemeinen Schlendrians zu überwinden. Dabei marschieren nicht etwa die Heere verlogener Moralapostel, es droht kein neuer Reinlichkeitsfetischismus. Nein: Es reicht vielen einfach. Bürgerliche Konventionen, die zugehörige Kultur und ihre ästhetisch-ethischen Normen – auch Marcel Reich-Ranickis erfolgreiche „Kanon“-Edition der wichtigsten deutschsprachigen Romane paßt in diesen Kontext – erleben einen Aufschwung wie lange nicht.

Helge Leibergs Bilder finden ihre aufmerksamen Betrachter genau in diesem Moment, in dem es um die Rückgewinnung von Tugenden geht und überhaupt um die Wiederentdeckung der Form, die lange verrufen war als steife Verhinderung ungezwungener Selbstverwirklichung. Die ins Innerliche verbannte Moralreflexion wird bei ihm an farbbrodelnde Oberflächen gebracht und lautstark verhandelt.

Leibergs CODEX-Zyklus umfaßt 15 Bilder, alle je 300 x 200 cm groß und direkt hingedacht auf die Kirchenraummaße der Berliner Nikolaikirche. Sie entstanden zwischen Januar und August 2004 und erweitern einen christlichen Themenkreis, der im Werk des Künstlers, etwa in Leibergs „Totentanz“-Bildern (ab Mitte der 80er Jahre), deutlicher noch in entsprechenden Rollbildern seiner Budapester Ausstellung von 1992, bereits aufscheint.

Im Zentrum seiner Auseinandersetzung mit der christlichen Ikonographie stehen die von Thomas von Aquin (geb. um 1225, gest. 1274, heiliggesprochen 1323) festgelegten Sieben Todsünden Stolz, Geiz, Unkeuschheit, Neid, Unmäßigkeit, Zorn und Trägheit.

Der Begriff der Todsünde, d.h. der Sünde, die den Tod verdient, geht auf Paulus zurück (vgl. Röm. 1,32). Nach 1. Kor. 6,9 zählen Unzucht, Götzendienst, Diebstahl, Habsucht, Trunksucht, Ehebruch, Gotteslästerung dazu.

Andere Bilder des Jahres 2004 binden ihre Motive an Geschichten des Alten und Neuen Testaments, etwa „Der brennende Dornbusch“, „Verkündigung“ und „Vertreibung“. Ohne gläubig zu sein, aufgewachsen in klassischer sozialistischer Gottverlassenheit, aber doch stabilisiert durch positive Erfahrungen mit Kirche und Verkündigung in der DDR, insbesondere ihren Kunstaktionen animierenden geistigen Freiräumen und Plattformen der Subkultur der späten 70er und frühen 80er Jahre, sucht Leiberg nach außergewöhnlichen Malanlässen und Ankergrund für seine Moralvorstellungen.

Die Sieben Todsünden gelten seit dem frühen Mittelalter als die Wurzel allen Übels. An ihnen entscheidet sich, was gut und böse ist. Da nicht nur das Gute, sondern auch das Böse seine Faszination hat, wurden die sieben Todsünden – oft kontrastiert mit den sieben Tugenden – zu einem vielfach bearbeiteten Thema in Theologie und Philosophie, in Malerei und Bildender Kunst. Eine der eindrücklichsten Darstellungen ist das 1933 entstandene Bild „Die sieben Todsünden“ von Otto Dix, das sich heute in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe befindet.

Erstmals wurden die Todsünden von dem griechischen Theologen Evagrius von Pontus erwähnt. Er erstellte eine Aufzählung von acht Todsünden und niederträchtigenLeidenschaften der Menschheit: „Völlerei, Wollust, Habgier, Traurigkeit, Zorn, geistige Faulheit, Ruhmsucht und Stolz“. Die aufsteigende Reihenfolge ergibt sich durch die Schwere der Versündigung, wobei der Stolz die schlimmste Sünde für Evagrius darstellte.

Papst Gregor I. reduzierte im 6. Jahrhundert die ursprünglichen „Acht Todsünden“ auf die bekannten „Sieben Todsünden“, welche sich im Allgemeinen in der katholischen Glaubenswelt durchsetzten. Papst Gregor fasste dann „Ruhmsucht und Stolz“ zu „Hochmut“ sowie „Traurigkeit und Faulheit“ zu einer Sünde zusammen. Die Reihenfolge änderte er ebenso wie er „Neid“ hinzufügte. Die veränderte Aufzählung lautete nun: „Hochmut, Neid, Zorn, Traurigkeit, Habgier, Völlerei und Wollust“.Im 7. Jahrhundert wurden „Traurigkeit“ durch „Trägheit“ und „Habgier“ durch „Geiz“ neu definiert.

Wenn es in allen Hochkulturen der Welt bestimmte Affekte gab, die in der Werteskala der edleren und der zu überwindenden Neigungen unten standen (etwa: Geiz, Neid, Gier), so werden sie in der globalisierten Kommerzgesellschaft als bisher ungenütztes Kapital des neuen Profits entdeckt: Geiz ist geil – und kann, wie wir das vor allem in den westeuropäischen Demokratien beobachten, politisch scharf gemacht werden.

In der Spaßgesellschaft wird der einzelne nicht mehr im Horizont des Guten oder Bösen vor die Frage nach dem richtigen oder falschen Handeln gestellt, in der Spaßgesellschaft werden wir von der permanenten Aufforderung begleitet, den inneren Erlebnisfaktor durch die Wahl des richtigen Produkts zu steigern. Intensität ist der Gradmesser des gelingenden Lebens, die maximale Erlebnisausbeute wird zum Horizont des persönlichen Erfolgs. Das neue Himmelreich ist der durch den Einsatz rückhaltloser Erlebnisbereitschaft verdiente Eintritt in die heitere Internationale der Endverbraucher. Das Paradigma des Konsums – des Verbrauchs – erstreckt sich auf Gedanken, Empfindungen und Erlebnisse. Lebensentscheidungen sind keine Frage großer Entwürfe, pathetischer Geschichten oder des Engagements für die richtige Sache; die tägliche, permanent kitzelnde Entscheidung ist die über den Ankauf der angemessenen Attribute für das individuell ausgekleidete Bewusstseinsdesign: je minimaler die Gründe für dies oder jenes werden, umso intensiver werden selbst minimale Entscheidungen stilisiert. Zeige mir welche Pizza du aus dem Menü wählst, welches Auto du bestellst, welchen Urlaub du buchst – und ich sage dir, wie es um deine Bereitschaft steht, im Konzert des generalisierten Konsums mitzuspielen. Durch die neue Metaphysik des Verbrauchs verdunstet der alte ernste Mensch.

Während die Jammerbekenntnisse der deutschen Popliteraten den Boden erst bereitet haben für zerrüttete Seelenlandschaften, richten sich Leibergs Bilder aus diesen Rückgratbruch-Halden auf wie Hymnen.

Man hat die Bankrotterklärungen ehemals verwöhnter Wohlstandskinder, die sich nach Führung und Abwechslung sehnen, noch vor Augen und sieht nun diese mal schluchzenden, mal glühenden Formate, in denen, geradezu drehbühnenkompatibel, Leibergs Innenbilder vor Angstbegriffen wie Hölle, Verdammnis, Strafe, Versuchung, Opfer, Sündenpfuhl und Sündenfall durcheinandergewirbelt werden – mit Spritzern und Wischern, den Bewegungen des schlagenden Pinsels und gellenden Farbkontrasten.

„Geiz“ ist ein Zeichen einer Totalvereinnahmung, „Gier“ ein aufgerissenes Schlangenmaul vor einer Hintergrundfigur, die die Selbstverspeisung probt, „Zorn“ ein Paar veitstanzartig zuckender Beine in einer sturmzerzausten Wolke und „Stolz“ eine einsame Figur, die mit ausgebreiteten Armen die Mondsichel zu umfassen sucht.

Tänzer- und Tänzerinnen-Figuren, die noch im Fallen strahlend steigen und ihre Energie ins Publikum schleudern, gibt es in Leibergs Kunst seit frühester Zeit. Seine Zusammenarbeit mit Jazzmusikern und Tanzperformerinnen hat den Kunstkarst der DDR aufgebrochen wie kaum ein intermediales Ereignis der damaligen Zeit und gehört zum Besten dieses Genres.Wenn jetzt Figurenkürzel durch die Szene hüpfen, dann wächst diesen zuweilen der Status zu, etwas Überpersönliches zu personifizieren: „das Weib“, „die Sünde“, „das Begehren“ zu sein – eine Allegorie im Stöckelschuh.

Es können aber auch genügend Bildbeispiele in Leibergs Todsünden-Serie angeführt werden, in denen der Tabubruch allem Anschein nach zweigeschlechtlich ist, etwa in „Wollust / Geilheit / Unzucht“, wo wir auf ein zentral plaziertes weißes Zwitterwesen stoßen, das vor einem kopulierenden Haufen roter  Leiber verharrt und sich in jeder Hinsicht selbst genügt.Ein gutes, zugleich ziemlich deprimierendes Bild, das einen aktuellen Befund unterstreicht: alles ist vorbei. Man könnte auch meinen, dieses Bild zeige einen Crashtest ohne Neigung zum Selbstmitleid.
Leiberg hält am Leben, daß er, notfalls übertreibende, Formeln prägt. Er hat die Kraft, malend Klarheit zu verschaffen, erst recht, wenn er Flächen auf sehr spezifische Weise, mit Pinsellagen, die offene Geflechte ergeben, verdichtet, was er auf diese Art (z.B. in „Trägheit“) erst seit den Jahren 2002/2003 begonnen hat, rückwärtig stabilisiert durch farbgewittrige  Ausbrüche in früheren „Adler“-Bildern, die nach Leibergs USA-Aufenthalt, etwa um 1996/97 entstanden.

Wenn diese Bilder einen aggressiv machen, dann kann das nicht falsch sein, denn es zeigt, daß sie nicht entstanden sind aus Häme und Überlegenheitsgefühl, sondern aus einer Leidenschaft, die am allgemeinen Konsensgefüge rüttelt.

Martin Stather: Bleiben Sie in Bewegung, 2004

All over Leiberg

Wird man unvermittelt mit Helge Leibergs Malerei konfrontiert, nimmt einen die Atemlosigkeit, die Dynamik und die Kraft des Ausdrucks sofort gefangen. Scheinbar mit Leichtigkeit geht da einer mit Pinsel und Tuschfeder um, setzt seine Zeichen rasch und und direkt. Die Farbe spritzt über die Leinwand, zeichnet den Schwung des Pinsels nach und läßt die Lebendigkeit der Bewegung direkt auf Leinwand und Papier spürbar werden. Die Leichtigkeit dieser Zeichnung ist eine der Hauptstärken von Leibergs Arbeitsweise; dabei kommt kein Zweifel auf – was hier so leicht gesetzt ist ist von meisterlicher Formbeherrschung und genauer Kenntnis von Bewegungsabläufen entstanden. Erst aus dieser Kenntnis erwächst eine figurative Abstraktion, die nur der Andeutung bedarf, um die Illusion im Kopf des Betrachters vollkommen zu machen.

Und immer ist es der Mensch, den Leiberg ins Zentrum der Gestaltung setzt. Für gewöhnlich setzt er dabei Gegensatzpaare: einmal die Figur, von einem breiten Pinselstrich gebildet, daneben eine Gestalt, von feinen Umrisslinien hervorgehoben, Positiv- und Negativform, wenn mwn so will, die sich auf der Malfläche begegnen. Diese Figuren seines persönlichen Welttheaters agieren und begegnen sich vor Farbflächen, Farbstreifen und mit Strichen angedeuteten Flächen, die keine räumliche Illusion vermitteln wollen, höchstens einen malerischen Raum andeuten, eine Folie, vor der sich die Akteure wie in einem Bühnenbild bewegen. Damit ist klar, daß hier kein wie auch immer gearteter Realismus angestrebt wird – die Attribute täglichen Lebens fehlen und wir sehen Figuren, die stellvertretend für uns agieren, ähnlich wie im Theater. Die Gliedmaßen sind überlängt, die Gestik ausgreifend theatralisch, oft pathetisch überhöht. Die Körpersprache seiner Figuren ist eine tänzerische, eine, die sich in fließender Bewegung ausdrückt. Hin und wieder treibt die Bewegung die Figuren über die Bildfläche hinaus, überschneidet sie, so daß Teile der Gestalt außerhalb des Bildes sind.

Ursprung solchen Fluchtverhaltens ist eine ältere Werkgruppe der „Sequenzen“, die Bewegungsabläufe und –szenen wie in einem Bilderbogen zusammenfasste. Diese szenischen Abfolgen waren ausschnitthaft gedacht – einzelne Bilder aus einem Gesamtzusammenhang, Bewegungsabfolgen wie in einem Reigen oder tänzerischem Zusammenspiel. Die Bewegung ist dabei immer wie bei einem schnellen Foto im Fluß eingefroren. Existenzielle Situationen des Lebens überträgt Helge Leiberg in die Form des Tanzes, eine Kunstform, die bereits archaische Mysterienspiele nutzten. Dabei ergeben sich immer wieder überraschende Begegnungen, wie z.B. die Ausdruckstänzerin auf dem blauen Elefanten, oder eine ungewohnt ruhige, fast beschauliche Szene in einem Segelboot mit Personnage und Pferd. Auch kalligrafische Einflüsse sind natürlich nicht zu übersehen, am deutlichsten werden diese vielleicht in den schlanken Hoch- und Breitformaten und in den reinen schwarz-weiß Kompositionen.

Ein herausragendes Bild berührt ein altes Thema der Kunstgeschichte – das Ecce Homo. Christus am Kreuz ist als Halbfigur wiedergegeben; nur der obere Teil des Körpers ist zu sehen, mit den weit auseinandergerissenen Armen und einer Drehung, die das schreckliche Verrenken der Figur am Kreuz erahnen läßt, ohne das Kreuz selbst sichtbar zu machen. Darunter, rechts, eine Figur, die auf den Gekreuzigten hinweist: „Sehet, ein Mensch.“ In der Konzentration auf das Wesentliche, Leid und Schmerz, wird Christus zum Mensch, der für alle anderen sein Leben gelassen hat. Leibergs karge Gestaltung verdichtet die Aussage auf ihr Zentrum.

Daneben zwei Arbeiten mit ockerfarbenem Hintergrund, Figurationen, Kamel und Fahrzeugen, ein Hinweis auf den Golfkrieg 2003, der die moderne Dimension der Kriegführung berührt, dabei den ewig gleichen Vorgang der Gewalt und des Tötens nicht ausblendet.

Bei den Tuschzeichnungen fallen die Blätter auf, in denen die Figuren mit einem Halbkreis agieren, diesen als Requisit spielerisch benutzen. Komposition und Spiel gehen in diesen Blättern eine schöne Verbindung ein, zeigen den Maler als Dompteur seines Figurentheaters, der die Puppen tanzen läßt und mit ihrer Gage essen geht.

Auch die Buchkunst bleibt nicht ausgespart, die Leiberg seit seinen frühesten Malertagen beschäftigt hat. Zu sehen ist eine kleine Auswahl seiner illustrierten Bücher, von Shakespeare-Sonetten über das Hohe Lied Salomons hin zu Arno Schmidt. Besonders interessant die Papiergüsse, in denen verschiedenfarbiges Papier zusammengegossen wird und so die Zeichnung entsteht, eine seltene und anspruchsvolle Technik, die Leiberg aus dem FF beherrscht.
Die Lust des Tanzes, darin sich das gesamte menschliche Leben spiegelt, das Leid, der Tod – Leibergs gestalterischer Spannungsrahmen umfasst nicht weniger als all dies. Mit traumwandlerischer Sicherheit und Meisterschaft skizziert er die Situationen, bündelt die Striche mit nie zuvor gesehener Intensität.

Erschöpft gehen wir nachhause oder in die Kneipe.

Jürgen Schilling: Tanz aus der Reihe, aber tanz dich nicht zu Tode, 2001

aus dem Katalog „Läuterung“ der Galerie Michael Schultz Berlin 2001

Mehr noch als den Bildern sieht man den Zeichnungen Helge Leibergs an, dass sie unmittelbar und aus dem Augenblick heraus entstehen. Seine Arbeitsweise ähnelt der asiatischer Kalligraphen, die nach Längeren Phasen der Konzentration in kurzer Zeit und rascher Folge ihre Tuschezeichnungen niederlegen. Mit wenigen reinen und leuchtenden Farben, vorwiegend Rot, Blau und Schwarz, fixiert er elementare Zeichen und Chiffren, kombiniert sich entwickelnde Gestalten zu turbulent agierenden Figurengruppen, die konzentriert mit sich selbst beschäftigt sind. Es wird gebalzt, geliebt, gekämpft, musiziert, getanzt. Leiberg öffnet den Blick auf das ganze Spektrum expressiver Lebensäußerung.

Er verknüpft Elemente des Ausdruckstanzes und ritueller Zeremonien außereuropäischer Volksstämme, lässt seine auf wenige Linienzüge reduzierten Figurinen wildgroteske Sprünge und erhabene Gesten ausführen. Vermittelt wird ein Gefühl von Rausch und Sinnlichkeit. Dabei unterlegt Leiberg erahnbaren, zuweilen durch die Präsenz von Trompetern, Saxophonisten und Kontrabassisten angedeuteten Klang und Rhythmus, dessen Wildheit die Rasanz der malerischen Geste entspricht. Trotz aller intuitiven Freiheit und Vitalität des Malprozesses wirken diese Darstellungen immer kompositorisch ausgewogen, nie dissonant, sondern geschlossen und tektonisch stabil. Eine überschäumende Kraft entlädt sich.

Zugleich ahnt man die meditative Anspannung, die hinter dem kreativen Akt steckt. Der Künstler reagiert auf seine Umwelt, wirft Informationen, Kommentaren gleich ein persönliches Statement auf Papierbögen, das sich in unmissverständlicher Sprache an den Betrachter wendet. Offener Raum und Körper. Gestaltung und Leere durchdringen sich auf weißer Fläche. deren lebendige Kraft jene Farbspritzer und Rinnsale intensiviert die sich um den Zug jedes mit leichter Hand geführten, tropfnassen Pinselstrichs formen. Leibergs spontane Setzungen teilen den Malgrund und beziehen ihn gleichzeitig aktiv in die Gestaltung ein. Aus eigener Energie entfaltet er im Zusammenspiel mit der koloristischen Interventionen Wirkung.

Besonders intensiv äußert sich das in jenen vibrierenden Partien, an denen Fließspuren und Farbkleckse Kontakt suchen, sich verdichten oder kurz vor einer Beinahe-Berührung abbrechen und versickern. Die Gliedmaßen seiner Figuren sind überlang, während die Köpfe unproportional klein erscheinen. So, als käme ihnen in diesem Geschehen eine mindere Bedeutung zu. Formensprache und Gestik lassen an magische, archaische Zeichnungen in der Sahara, Höhlenmalereien oder prähistorische Felsritzungen denken. Rätselhaft komplexe Spuren humaner Existenz. Beschwörungen. Man erlebt derartige visuelle Botschaften. Sie provozieren unser Assoziationsvermögen und eröffnen einen an und aufregenden Dialog.

Die moderne Kunst, ihre Bildvorstellungen und Bildzeichen gleichen in manchem den Anfangs- und Frühepochen der Menschheit. Das Heraufkommen seelisch latenter, unbewusster Urbilder. Eingravierungen der Kollektiverfahrungen und leiden in der Psyche, reflektiert sich im visuellen Bereich moderner Formgebung. Leibergs Werk bewegt sich in einer Traditionskette mit denen Klees, Miros, Soutters oder Michaux. Dass es Situationen mit autobiographischem Charakter sind, die der Maler anreißt, belegen nicht nur Anspielungen auf ihm bestens vertraute und im Rahmen seiner optischakustischen Performances genutzte Elemente aus der Musik Szene. Er setzt sich selbst in einer Suite von Selbstbildnissen frontal ins Bild.

Dietrich Mahlow: Zwischen Sprung und Fall, 1999

aus dem Katalog „Zwischen Sprung und Fall“ der Galerie Peter Borchardt Hamburg 1999

Helge Leiberg springen ist sein Leben! Die Liebe ist sein Leben. Er weiß nicht, was soll es bedeuten, daß er so unruhig ist, ein Märchen aus uralten Zeiten, das Märchen der Liebe geht ihm nicht aus dem Sinn. Sein Leben ist der Sprung zum Menschen.

In der Bewegung des Menschen sucht er den Menschen, sucht er sich. Henri Michaux, zu dem man Vergleiche ziehen kann, ging von der Schrift aus zum Menschen. Handschrift in Bewegung. Helge geht vom Körper aus. Beide such(t)en das wirkliche Leben in der Kunst, den Garten des menschlichen Geistes und seiner Natur.

Helge greift immer auf die Chaos-Kräfte zurück, ohne sich in ihnen zu verlieren, sondern um immer von neuem zu beginnen, sie zu nutzen. „Man muß ein Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können“, sagte Nietzsche – Helge gebiert tanzende Menschenspiele. Seine Gedanken sehen die Kunst, die Natur, die Menschen und ihre Worte immer in Bewegung und immer wieder „Skeptisch“! Kunst, Philosophie und Poesie gehen hin und her – wie wir – zwischen dem, was ist und dem, was nicht ist. Helge flicht Reflexe, entflechtet sie wieder, sät Augen aufs Papier, sät Wörter in die Augen.

Ein Gewebe von Kräften, die das Persönliche suchen und nicht die Globalisierung, so chaotisch sie sind, so lassen sie uns die unruhige Poesie seines Denkens erleben, immer zwischen Sprung und Fall. Bewegung als die ständige Veränderung der vielen Qualitäten des Menschen, die er doch hat, die aber oft in Statik verharren. So spiegelt Helge Leben, Kunst als Spiegel des bewegten Lebens. Der Mensch als Schrift-Zeichen, das alle Sprachen verbindet. Schrift des ganzen Menschen – die es doch aber gar nicht gibt. Die „Schrift“ seiner Menschen überspringt die Not, den Schmerz, das Sinnlose, Gewalt und Tod und wird immer wieder zum Fanal des Möglichen, des auch Dir Möglichen!

Wenn ich versuche, den Menschen im Sprung zu lesen, ist er schon davon – dann schließe ich die Augen – fasse mit meiner Hand meine Füße – springen kann man nur mit dem Fuß, und sich halten oder wehren mit den Händen. Der „Luftzug an der Ferse“ weht bis in die Haare, die gar keine sind, sondern nur Spritzer der Farbe. Busen, Hände, Beine, Füße, nur Farbstriche, der Körper fehlt. Nein, es ist das Weiße auf dem Blatt, das Fundament, die Grundlage, die Kraftquelle. Vieles scheint bei Helge zufällig zu sein (frei nach Schopenhauer) der du dein Wohlsein und deine Unabhängigkeit verdankest – und die Freude am öffnen der bisherigen Welt, auch der Töne der Musik und des Klangs der Sprache. Wie groß ist deine Welt, die dir der Zufall gab, was er vielen Tausenden versagte, um es einzelnen wie dir geben zu können? Wie groß ist Helges Welt?

Manchmal tanzt der Körper mit dem Kopf im Bauch – der Kopf tanzt zwischen Geburt und Tod, Freude und Angst, Liebe und Einsamkeit, Freiheit und Notwendigkeit –und wer spielt Musik – wer holt den Klang aus dem Kopf? Wunderbar die Verbindung mit der Musik! Sie ruft Bilder hervor und die Bilder beginnen zu tönen. „We have eyes as well as ears and it is our business when we are alive to use them“, schrieb John Cage. Auge und Ohr verbinden sich.

Christoph Tannert: Tanz die Blutspur, 1992

aus dem Katalog „Totentanz zu Budapest“ in der Hauptstädtischen Gemäldegalerie der Stadt Budapest, Ungarn, Juli 1992

Wenn Leiberg eine Linie, einen Strich setzt, dann ist dieser aber auch gleichzeitig sichtbare Aktion, Spur eines rhythmischen Elements, Geste, eine aus dem Körper schlagende Geheimschrift. In der kontinuierlichen Gegenwart von Schöpfung, und Formgebung, die antilinear erscheint, ungeordnet und unübersichtlich, eine zusammenhanglose Verkettung zufälliger Ereignisse, spiegelt sich die rätselhafte Einheit von Chaos und Ordnung – ihre Verschiedenheit und Gleichheit, das Aufeinanderverweisen von scheinbar gegensätzlichen Zuständen. Als Künstler und Musiker hat sich Helge Leiberg für das Zufällige in der Tiefe der Ordnung ganz besonders interessiert.

Das scheinbar gelenkte, das Lineare, sah er stets konfrontiert durch ein immerwährendes Chaotikum. IntermedialeVerschränkungen von Malerei, Tanz und Klang gehören deshalb zu seinen bevorzugten Artbeitsfeldern. Das Cross-Over im kommunikativen Verbund mit Malerkollegen Lyrikern und Jazzern nahm seinen Ausgangspunkt in Dresden zum Ende der 70er Jahre. Helge Leiberg galt damals als Innovator und zentrale Figur der nichtstaatstragenden Kultur. Seine Experimentalfilme und Körperprojektionen setzten in einer eigentümlichen Athmosphäre aus Trotz, Ironie und Selbstbewußtsein Akzente ästhetischer Expressivität und Verweigerung.

Über verschiedene neue Projekte und die Gründung diverser intermedialer Gruppen hat Leiberg bis heute seinem Programm der Herstellung von Wechselwirkungen zwischen den Künsten immer wieder andere Konturen verleihen können. Manchmal sind die Linien, die Helge Leiberg auf Leinwand oder Papier erscheinen läßt, Gerinsel, blutrot und brutal, manchmal gleichen sie zerfetzten Mullwickeln. Mit den elektronisch verfremdeten Kratzgeräuschen seines Noisepainting treibt er einen hinter dem Augenhintergrund rumorenden Dauerton Richtung Nacken und als Schauer- Serpentine zwischen den Schulterblättern hindurch.

Linien werden zu Zeichen auf der Tonspur und erzwingen den Schrei. In klingendem Zustand, mit Lust und Getöse flutet Farbe mit der Wirkung eines Ereignisses. Zwischen Eros und Thanatos hat Helge Leiberg einen Fluß gestaut, der die traditionelle „Totentanz“- Darstellung aus der erzählerischen Perspektive erhebt in rauschhaften Taumel