Texte

 „Tue alles so, als ob Epikur es sähe“ (Seneca, Epistulae morales 25,5).

Was Helge Leibergs Arbeit mit dem Werk seines verstorbenen Freundes A.R. Penck verbindet, ist nicht zuerst das Zeichenhafte, die Abbreviatur von Körper und Raum, sondern das Primat der Zeichnung, von der alles herkommt. In die alles mündet – auch die gemalte Farbe und die plastische Form. Leibergs teils großformatige Bilder sind – wie die ungezählten Zeichnungen und die ephemer performative Projektions-Malerei – so etwas wie Halbzeuge in einem scheinbar ununterbrochenen Prozess künstlerischer Produktion. Das Wunderbare daran ist die Tatsache, dass sie sich trotzdem als veritable, autonome Werke erweisen, wenn sie aus diesem Fluss herausgenommen werden und als Teil des Ganzen diesem Ganzen seine Gültigkeit erweisen.

Man könnte Helges Bilder lesen als stillgestellte Sequenzen von Bewegungsabläufen in deren Aufzeichnung im Film. Nicht im Sinne von Screenshots sondern ganz im analogen Sinne dieses Wortes: AUFZEICHNUNG. Denn genau besehen zeichnet Helge nicht nur: Er zeichnet etwas auf. Und das ist mehr als zeichnen, ist ein Errichten, ein Festhalten, ein Sichern und letztlich auch ein Erinnern. Der bevorzugte Gegenstand dieser Aufzeichnungen in Leibergs Arbeit ist der Tanz, die Synästhesie von Musik, Körper und Bewegung.

Helge Leibergs Bilder sind oftmals literarisch motiviert – zwischen dem Hohelied Salomos und Dantes Divina Comedia. Und sie sind auch immer visualisierte Musik. Unbekümmert um die intellektuellen synästhetischen Experimente der Moderne des 20. Jahrhunderts hat er sich gleichsam archaischen Ausdrucksformen zugewandt und im Tanz, einer der ältesten Formen ästhetischer Artikulation, über Jahre eine ganz eigene Bildsprache entwickelt.
Die Archaik von Höhlenzeichnungen trifft hier auf komplexe Formen, die der unmittelbaren Erfahrung höchst elaborierter musikalischer Strukturen geschuldet sind. Man könnte denken, all das käme – wie man so sagt – ganz aus dem Bauch heraus, die fetzigen Figuren mit Haaren aus Farbspritzern, überlängten und fast schon ornamental verschränkten Gliedmaßen, hautlosen Köpfen, großen Füßen und Fingern, welche zugreifen können wie Krallen, die das Prinzip Lebendigkeit bis zum letzten zu verteidigen bereit sind.

Aber so einfach ist das nicht. Zwar hat Helge Leiberg, der Erfinder des „Noise-Painting“, immer wieder spontane Malerei zu Tönen, solchen der menschlichen Stimme wie instrumentell erzeugten, gemacht, die die Geburt des Bildes aus dem Ephemeren des Klanges im Wortsinn miterleben lassen. Aber auch das geschah nicht einfach so im Sinne eines von seelischem Chaos gezeugten Aktionismus. Viel eher entspringt alles, was Leiberg tut, einer Reflexion über die Möglichkeiten und Prinzipien der Wahrnehmung, des Wahrnehmens. Und weil er ein sogenannt lebensbejahender Mensch ist, geht es ihm um deren fortwährende Erweiterung. Im Sinne des griechischen Philosophen Epikur (341– 271/270 v. Chr.) ist die eigene Wahrnehmung die einzig verlässliche Instanz menschlichen Entscheidens. Sie weist den Weg in ein gelungenes Leben, das die antiken Philosophen Eudaimonie nannten, und das nicht mit dem heutzutage vielfach angestrebten Zustand andauernder Glückseligkeit verwechselt werden darf.

Ich scheue nicht davor zurück, Helge Leiberg einen Epikuräer zu nennen, einen der sein Leben und seine Kunst als eine philosophisch begründete Existenzform versteht, deren wichtigste Momente individuelle Autarkie, gemeinsame Arbeit und die Fähigkeit zur Freundschaft sind. Die von Beginn an intensive Zusammenarbeit mit Jazzmusikern, Tänzerinnen, Autorinnen und Dichtern ist nicht den modischen Ideen kollektiver Kunstarbeit geschuldet sondern geschieht in eben dieser Autarkie des einzelnen, die allein die Spannung der Arbeit aufrecht halten kann.

Die Erfahrungen der Dresdner Zeit zwischen dem Studium bei Gerhard Kettner und der Übersiedlung nach Westberlin 1984 legten den Grund dieser Arbeitsweise. Unter dem Eindruck der internationalen Free-Jazz-Szene der 70er und frühen 80er Jahre hat er mit Freunden und Kollegen, A.R. Penck, Michael Freudenberg, Lothar Fiedler und anderen, ausgiebig musiziert und unbekümmert um die Reinheitsgebote der Kulturverwalter leichtfüßig die von denen gehüteten Grenzen der künstlerischen Gattungen übersprungen. Er zählte damals zur Art Avantgarde des Ungehorsams, die nur solange im Lande blieb, bis das Machbare ausgereizt war, weitere Entwicklung nicht mehr möglich schien und dann weiterzog.

Doch das war in einer anderen Zeit. Das falsche Leben ist ganz anders aber nicht richtiger geworden. Und Helge entging nicht dem Schicksal des Avantgardisten: Er wurde zum Klassiker, der einer falschen Synästhesie unseres Alltags, jenem ständigen Ansturm visueller, akustischer, olfaktorischer, haptischer, konsumistischer und pseudo-erotischer Reize ein gleichsam organisches Wahrnehmungsmodell entgegensetzt. Eines, das den Ansturm nicht negiert und ihm auch nicht polemisch entgegentritt, sondern die Phänomene auf ein künstlerisch fassbares Maß zurückführt und die Erregungen, die sie auslösen, in figurativen und kommunikativen Codes beschreibt.

Unter Anthropologen ist die Annahme verbreitet ist, dass die Sprache aus der pragmatischen, die Musik aus der sexuellen Kommunikation, sprich Selektion, hervorgegangen sei. Hier liegt die Wurzel der mehr oder weniger deutlichen erotischen Appelle, die Helges Arbeiten aussenden und dabei auf jenem Grad von Sublimierung und Exaltation balancieren, der großer Kunst immer schon eigen war: Giorgione, Correggio, Giacometti, Germaine Richier oder Louise Bourgeois….

19911992 hat Helge Leiberg in einer Budapester Markthalle eine raumgreifende Installation großformatiger Rollbilder zum Thema Totentanz gezeigt. Fünf davon sind hier wiederzusehen, ihr eigentliches Thema ist die Dualität von Eros und Tod. Das Totentanzmotiv – La Danse Macabre – ist das Produkt einer existentiellen Krise. Es zieht sich durch die ganze Kunstgeschichte der Neuzeit. Seinen Ausgang nahm es in der Mitte des 14. Jahrhunderts, als Europa von der Pest gepeinigt und zu nahezu einem Drittel entvölkert war. Da befiel eine seltsame „Tanzwut“ die Menschen und es kam zu Exzessen jedweder Art. Ob dieser Übermut der Einnahme halluzinogener Substanzen geschuldet war oder schlicht der Angstüberwindung diente, ist bis heute umstritten. Der Tod, der Allanwesende, unterscheidet nicht nach Geschlecht und nicht nach arm und reich. Er nivelliert die Standesgrenzen und schafft im Chaos des Untergangs eine nie dagewesene Ordnung.

Dass Helge Leibergs Bilder und Plastiken hier in einem idealtypischen barocken Garten zu sehen sind, verweist auf ihren emblematischen, sinnbildhaften Charakter. Sie zeigen, was sie sind. Und sie bedeuten, was wir ihnen an Bedeutungen zumessen. Zu den Tätigkeiten des Zeichnens und Aufzeichnens tritt in den plastischen Arbeiten das Bezeichnen. Leibergs wie in den freien Raum gezeichnete Tänzerinnen bezeichnen den Raum als einen konkreten Ort. Die Emblematik, die ihre Hochzeit im Barock hatte, öffnete der Kunst neue Räume des Denkens.
Unordnung ist Teil der Ordnung, Unlust Teil der Lust.
Auch davon sprechen Helges Arbeiten.