Helge Leiberg blickt auf eine langjährige Erfahrung hinsichtlich der visuellen Umsetzung literarischer Vorlagen zurück; seine druckgrafischen Folgen zu Themen der Weltliteratur sicherten ihm eine Aufmerksamkeit, die dem Interesse an seinem malerischen und plastischen Œuvre gleich kommt. Nun widmet sich ein umfangreicher, aus Gemälden und Zeichnungen bestehender Bildzyklus dem fesselnden ersten Teil des im frühen 14. Jahrhundert verfassten Versromanes Comedia des Florentiners Dante Alighieri, dessen Titel zu einem späteren Zeitpunkt durch das grenzenlose Bewunderung ausdrückende Adjektiv divina ergänzt wurde. Anders als die meisten bildenden Künstler, die sich mit diesem kulturgeschichtlich bahnbrechenden, über Jahrhunderte hinweg aktuellen Text näherten, indem sie einzelne Abschnitte des Werkes dem Wortlaut folgend illustrierten, bemächtigt sich Leiberg des Inhaltes auf andere Weise.
Bei seiner Interpretation des Inferno verwendet er zwar vorgegebene Motive, rafft und verdichtet das Geschehen jedoch und legt das Gewicht auf die atmosphärische Schilderung simultan erfasster Szenen. Sein Herangehen an den gewaltigen Stoff ist eher mit den auf assoziative Momente konzentrierten Darstellungen Robert Rauschenbergs oder Tom Phillips zu diesem Thema vergleichbar als mit den prominenten Illustrationen eines Botticelli, Blake, Flaxman, Koch, Doré oder Dalí. Dass die Erzählungen der Comedia – trotz ihrer vielfältigen inhaltlichen Entsprechungen zur Gegenwart – in der zeitgenössischen Kunst bislang kaum Widerhall finden, obwohl gerade das Inferno als underworld of death sowohl in der Jugendliteratur, in Romanen, den digitalen Medien oder in Filmen omnipräsent ist, muss erstaunen.
Der Titel des Versepos führt – aus heutiger Sicht – in die Irre, denn es handelt sich keineswegs um eine erbauliche Geschichte mit komischen Elementen, sondern um eine Abhandlung über Schuld und Sühne: Schauplatz der sich dramatisch entwickelnden Dichtung voller unerwarteter Ereignisse ist eine sich unter der Erdoberfläche weit in die Tiefe erstreckende terrassierte Höhle, welche Dante, geleitet von seinem literarischen Vorbild und Mentor, dem römischen Schriftsteller Vergil – Schöpfer der Aeneïs mit ihrer Beschreibung der Reise eines Sterblichen durch die Unterwelt – durchquert. Ihre fiktive Wanderung führt durch einen sich nach unten verjüngenden, aus konzentrischen Kreisen geformten Trichter, der tief ins Erdinnere bis zum Sitz des Teufels reicht. Kontinuierlich treffen sie in dieser jenseitigen Welt auf Schattenwesen, verdammte lebende Tote, Elendsgestalten, die aufgrund ihrer Sünden unaufhörlich schrecklichsten Torturen ausgesetzt sind. Kleriker, legendäre Gestalten und Politiker der Zeit finden sich ebenso darunter wie all jene, die sich zu Lebzeiten durch Wucher, Korruption, Ausbeutung, Verrat, Schmeichelei, Heuchelei, Wollust, Kuppelei, Betrug, Mord und Untaten aller Art, aber auch durch Indifferenz hervortaten und ihren Platz in den von üblem Gestank und ohrenbetäubendes Wehklagen erfüllten Höllenkreisen fanden. Die bildnerische Umsetzung ihrer Bestrafung und der damit einhergehenden Gräuel verlangen nach einer drastischen und expressiven Bildsprache.
Schon jene das Weltgericht darstellenden Fresken Taddeo di Bartolos im Dom von San Gimignano, Luca Signorellis im Dom von Siena oder Michelangelos in der Sixtina, bei deren Schöpfern man die genaue Kenntnis der Comedia voraussetzen kann, zeichnen sich durch eine stupende drastische Detailfreude aus, wie sie auch Helge Leibergs Zyklus aufweist. Seine vielfigurigen Kompositionen zeugen von einer überbordenden, an Dantes Sprachbildern sich entzündenden Phantasie. Er verwandelt jene langgliedrigen Figuren mit ihren unproportional kleinen Köpfen, die uns von früheren Werken vertraut sind, in unstete gespenstische Wesen, bündelt sie zu einem von entfesselten Dämonen dominierten feurig glühenden Knäuel, stürzt sie kopfüber in einen Felsenschlund, an dessen Grund ihre Leiber im Sumpf versinken, häuft ihre gequälten Körper, positioniert sie auf einer Klippe in langer Reihe, wo sie ihrer unausweichlichen Strafe zugeführt werden, dem Verglühen in den züngelnden Flammen der Vorhölle, in der – noch hat man tiefere Schichten nicht erreicht – die Rhythmen eine chiffrenartig ins Bild gesetzten Jazzband das makabre Spektakel begleiten.
Um auf verschlungenem und gefahrvollem Wege in die Bereiche des Jenseits herabsteigen zu können, müssen Dante und Vergil Hindernisse überwinden und Attacken von metaphorisch die Laster repräsentierenden Tieren und teuflischen Horden überstehen. Schließlich erreichen sie das Höllentor, den Eingang in das ewige Leid und zum verloren Volk. Eine angebrachte Inschrift raubt allen Eintretenden jede Hoffnung auf Erlösung und Rückkehr. Sie schließen sich wartenden Toten an und bitten den Fährmann Acharon, sie mit jenen über einen breiten Grenzfluss zu setzen, welches dieser jedoch mit Hinweis auf ihre reinen Seelen ablehnt. Sein Boot interpretiert Leiberg als in der Ferne sich abzeichnendes, von ornamental angeordneten, turbulent durch die Luft rasenden, in Auflösung begriffener Schattenleibern umkreistes Segelschiff – bzw. in einer parallel entstandenen Zeichnung als Kreuzfahrtschiff. Auf andere Weise gelingt Dante und Vergil sich der ewigen Finsternis zu Glut und Eis zu nähern. Bald begegnen die Reisenden dem Höllenrichter Minos, der den Verdammten den Platz ihres Leidens zuweist, eine Szene, die Leiberg von einer bizarren spinnenartigen Schreckensgestalt dominieren lässt, deren Kopf ein weißer Totenschädel ersetzt. Ihre vier Beine stehen auf einem rotem Schachbrettmuster, fünf Arme fahren erregt und beherrschend in den Raum; zu Füßen dieses Monsters bewegen sich kleine menschliche Körper, deren Gebärden von grenzenloser Verzweiflung sprechen.
Der Betrachter erlebt diese Situation gleichsam aus der Sicht des nackt im Vordergrund dastehenden Dante. Dessen Empfindungen angesichts ungezügelter Gewalt und unerhörter Qualen teilen sich auf Leibergs Gemälde unmittelbar durch Gesten des Erstaunens, seiner Verwunderung oder des blankem Entsetzens mit. Während der Maler den Protagonist zumeist ganzfigurig darstellt, wird Vergil mehrfach durch eine puppenhaftes Profil repräsentiert, welches in ein durchbrochenes monochromes Rechteck eingefügt und vom lebhaften malerischen Umfeld abgesetzt wird. Ähnliches gilt für die von Dante hymnisch verehrte Jugendliebe Beatrice, die zu einem späteren Zeitpunkt den Heiden Vergil ablösen und Dantes Führung auf dem Weg zu Reinigung und Neubesinnung hin zum Paradiso übernehmen wird. Deren stetige Präsenz in der Gedankenwelt des Autors wird durch eine weibliche Figurine in einer ebenfalls mehrfach repetierten Vignette angedeutet.
Leiberg folgt mit seinen Bildern gleichsam den von Dante und Vergil beschrittenen Rampen ins Geisterreich, um schließlich Luzifers Fratze ins Bild setzen zu können, nicht ohne zuvor
sämtliche Facetten des Bösen beleuchtet zu haben. Die Schichten seines Farbauftrags oder zur Unterstützung eines Lichteffektes collagierter Zeichnungen überlagern sich wie die beängstigenden Visionen des Poeten; wie dieser konstruiert Leiberg Rückverweise, Anspielungen, Querverbindungen und schafft somit Bezüge zu einer Gegenwart, deren Gesellschaft in nicht geringerem Maße korrupt, gierig, verlogen und gewaltbesessen ist wie diejenige, welche Dante vor Augen hatte. Lässt die Dichtung ihre Protagonisten sich im Wald bewegen, schafft Leiberg eine Konstellation, in welcher die Bäume sich in Hochhäuser verwandeln, aus denen Menschen in den Tod stürzen – ein Hinweis auf die New Yorker Terroranschläge im September 2001 – und auf jenen Leichenbergen landen, die einmal als ein Symbol unserer Zeit gelten könnten. Auch die im neunten Höllenkreis beschriebene Episode, welche die Begegnung mit dem dreigesichtigen ekstatischen Teufel im Eissee zeigt, der drei Erzverräter, Judas, Cassius und Brutus, gleichzeitig verschlingt, birgt einen Hinweis auf das Jetzt, denn das im oberen Bildbereich eingefügte Fragment der Weltkugel, von der herab die Missetäter in die Fänge des Teufels stürzen, ist den Höllenflammen gefährlich nah. Wir sehen Dante und Vergil diese Szene aus einem primitiven Kasten beobachten, an dem oben ein Seil befestigt ist, so dass naheliegt, an einen Aufzug zu denken. Durch einen Schacht gelangen beide durch eine runde Öffnung nach oben. Dann traten wir hinaus und sahen die Sterne, berichtet der Dichter zum Abschluss seiner Höllenfahrt, bevor er zur nächsten Station seiner Reise, dem Läuterungsberg, aufbricht.
Helge Leiberg veranschaulicht Dantes inspirierende Abenteuer und ihre Schauplätze auf seine Art: kompakt gebündelten Farbmassen werden rasch niedergelegt, Architekturen und Körper von Tätern und Opfern definierende Strichfolgen hinzugefügt; aus knappen Bildzeichen entwickeln sich Strukturen, die einerseits individuelle Handlungen und Emotionen beleuchten und zugleich Allgemeingültigkeit beanspruchen. Auf seiner Bildbühne entwickelt Leiberg aus einem Fundus jäh aufscheinender Ideen, Erinnerungen und literarischer Anregungen ein komplexes, groteskes und bisweilen mystisch erscheinendes Welttheater.
Während die Gemälde nicht nur inhaltlich, sondern auch formal dicht und tektonisch stabil angelegt sind, sind die begleitenden Zeichnungen offener, luftiger und insofern im Stil früherer Kompositionen Leibergs konzipiert. Sie thematisieren einzelne Begebenheiten der Comedia und haben eher als die Gemälde den Charakter illustrativ den Text begleitender Bilder. Auf den mit wenigen reinen und leuchtenden Farben, vorwiegend Rot, Blau und Schwarz ausgeführten Blättern vermittelt der Künstler ein Gefühl von Tragik, Beängstigung, Rausch, Sinnlichkeit und pointiert eingesetzter Energie, die der Rasanz der malerischen Geste entspricht. Offener Raum und Körper, Gestaltung und Leere durchdringen sich auf der weißen Papierfläche.
Leiberg erfindet immer neue Konstellationen, reißt Dantes Themenkreise metaphorisch an oder findet mit seinen turbulent agierenden Figurengruppen zu bildfüllenden Arrangements. Tragische Motive wie Grausamkeit, Ohnmacht und Ausgeliefertsein tauchen hier erstmalig in Leibergs Bildkosmos auf, dagegen war in seinen Schöpfungen der personifizierte Tod als leibhaftige Erscheinung oder unsichtbarer Begleiter stets präsent, bereit, unvermittelt, unvorhersehbar und unausweichlich ins pulsierende Leben einzugreifen. Der Auseinandersetzung mit der Comedia verdankt Leiberg Anregungen zu einer profunden Recherche, die Anstoß zu außergewöhnlichen und packenden Transpositionen bietet.