Texte

Schon der Titel der Ausstellung von Helge Leiberg sagt das Wichtigste: CODEX – es geht um Bilder, die in einer Zeit der tagtäglichen Werteverschiebung, ja manche beklagen sogar einen Werteverfall, nach Wertorientierungen fragen, etwa auch nach einem christlichen Kanon.

Die Deutschen sind, kalendarisch gesehen, ein frommes Volk. Ostern, Pfingsten, Weihnachten – zwischen 9 und 13 gesetzliche Feiertage, je nach Bundesland, stehen im Kalender. Und bis auf den 1. Mai und den 3. Oktober entstammen sie christlichem Brauchtum.

Doch der fromme Schein trügt. Den Kirchen droht ein Absturz in die Bedeutungslosigkeit: Den Hirten laufen ihre Schäfchen davon, die christlichen Werte verfallen zusehends. Moral ist mehr denn je Mangelware. Die von TV-Sendern aus kühlem Quoten-Kalkül betriebene „Debilisierung“ („taz“) des Publikums mittels Sex and Crime zeigt deutlich nachteilige Wirkungen in Bezug auf Kinder und Jugendliche. Heute beweist schon Charakter, wer jeden Tag auf eine schlechte Tat verzichtet. Welche ethischen Standards gelten noch? Lohnt es sich, Prinzipien zu haben in einer Zeit, in der der Egotrip als Königsweg gepriesen und Steuermogelei zum Volkssport wird? Diese moralische Kälte, diese Gleichgültigkeit ist für viele, die sich voller Enthusiasmus auflehnen gegen den Trend zur Entsolidarisierung, ein Schockerlebnis. Hoffnungslosigkeit macht apathisch.

Leibergs Bilder kommen von der anderen Seite der Gefühlsdisposition. Sie sind voller Engagement, ohne agitatorisch zu sein. Er weiß: Jemanden aufzurütteln, ist fast unmöglich. Die allgemeine theoretische Einsicht, daß Böses auf dem Planeten geschieht, rührt heutzutage niemanden mehr an.

Nur noch vier der Zehn Gebote der Christenheit wurden vor 15 Jahren von nahezu allen in Deutschland lebenden Frauen und Männern als „wichtig“ eingeschätzt. So hielten es erheblich mehr Bundesbürger für bedeutsam, ihre Eltern zu ehren als ihrem Partner treu zu sein. Am meisten Zustimmung fand laut einer Emnid-Umfrage für SPIEGEL special von 1999 das Fünfte Gebot. „Du sollst nicht töten“ war für 97 Prozent der Bürger über 18 Jahre eine „wichtige“ Maxime der christlichen Ethik. Die Zustimmung erfolgte unabhängig vom Alter und vom politischen Standort – mit Ausnahme der Anhänger der Republikaner, von denen lediglich 64 Prozent das Gebot für wichtig hielten.

Folgt man den Modemachern, ist die Verlotterung der Sitten längst gestoppt. Bereits die Herbstmode 2003 zeigte deutlich mehr „Angezogenheit“ im Zeitalter der Bauch-frei-Girlies als alle Knappklamottenentwürfe zuvor.

Und auch andernorts mehren sich die Anzeichen, daß sich immer mehr Zeitgenossen gegen Tabugrenzenverschiebungen wie fatalistische Hinnahmebereitschaft wehren wollen und versuchen, die kollektive Lähmung angesichts des allgemeinen Schlendrians zu überwinden. Dabei marschieren nicht etwa die Heere verlogener Moralapostel, es droht kein neuer Reinlichkeitsfetischismus. Nein: Es reicht vielen einfach. Bürgerliche Konventionen, die zugehörige Kultur und ihre ästhetisch-ethischen Normen – auch Marcel Reich-Ranickis erfolgreiche „Kanon“-Edition der wichtigsten deutschsprachigen Romane paßt in diesen Kontext – erleben einen Aufschwung wie lange nicht.

Helge Leibergs Bilder finden ihre aufmerksamen Betrachter genau in diesem Moment, in dem es um die Rückgewinnung von Tugenden geht und überhaupt um die Wiederentdeckung der Form, die lange verrufen war als steife Verhinderung ungezwungener Selbstverwirklichung. Die ins Innerliche verbannte Moralreflexion wird bei ihm an farbbrodelnde Oberflächen gebracht und lautstark verhandelt.

Leibergs CODEX-Zyklus umfaßt 15 Bilder, alle je 300 x 200 cm groß und direkt hingedacht auf die Kirchenraummaße der Berliner Nikolaikirche. Sie entstanden zwischen Januar und August 2004 und erweitern einen christlichen Themenkreis, der im Werk des Künstlers, etwa in Leibergs „Totentanz“-Bildern (ab Mitte der 80er Jahre), deutlicher noch in entsprechenden Rollbildern seiner Budapester Ausstellung von 1992, bereits aufscheint.

Im Zentrum seiner Auseinandersetzung mit der christlichen Ikonographie stehen die von Thomas von Aquin (geb. um 1225, gest. 1274, heiliggesprochen 1323) festgelegten Sieben Todsünden Stolz, Geiz, Unkeuschheit, Neid, Unmäßigkeit, Zorn und Trägheit.

Der Begriff der Todsünde, d.h. der Sünde, die den Tod verdient, geht auf Paulus zurück (vgl. Röm. 1,32). Nach 1. Kor. 6,9 zählen Unzucht, Götzendienst, Diebstahl, Habsucht, Trunksucht, Ehebruch, Gotteslästerung dazu.

Andere Bilder des Jahres 2004 binden ihre Motive an Geschichten des Alten und Neuen Testaments, etwa „Der brennende Dornbusch“, „Verkündigung“ und „Vertreibung“. Ohne gläubig zu sein, aufgewachsen in klassischer sozialistischer Gottverlassenheit, aber doch stabilisiert durch positive Erfahrungen mit Kirche und Verkündigung in der DDR, insbesondere ihren Kunstaktionen animierenden geistigen Freiräumen und Plattformen der Subkultur der späten 70er und frühen 80er Jahre, sucht Leiberg nach außergewöhnlichen Malanlässen und Ankergrund für seine Moralvorstellungen.

Die Sieben Todsünden gelten seit dem frühen Mittelalter als die Wurzel allen Übels. An ihnen entscheidet sich, was gut und böse ist. Da nicht nur das Gute, sondern auch das Böse seine Faszination hat, wurden die sieben Todsünden – oft kontrastiert mit den sieben Tugenden – zu einem vielfach bearbeiteten Thema in Theologie und Philosophie, in Malerei und Bildender Kunst. Eine der eindrücklichsten Darstellungen ist das 1933 entstandene Bild „Die sieben Todsünden“ von Otto Dix, das sich heute in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe befindet.

Erstmals wurden die Todsünden von dem griechischen Theologen Evagrius von Pontus erwähnt. Er erstellte eine Aufzählung von acht Todsünden und niederträchtigenLeidenschaften der Menschheit: „Völlerei, Wollust, Habgier, Traurigkeit, Zorn, geistige Faulheit, Ruhmsucht und Stolz“. Die aufsteigende Reihenfolge ergibt sich durch die Schwere der Versündigung, wobei der Stolz die schlimmste Sünde für Evagrius darstellte.

Papst Gregor I. reduzierte im 6. Jahrhundert die ursprünglichen „Acht Todsünden“ auf die bekannten „Sieben Todsünden“, welche sich im Allgemeinen in der katholischen Glaubenswelt durchsetzten. Papst Gregor fasste dann „Ruhmsucht und Stolz“ zu „Hochmut“ sowie „Traurigkeit und Faulheit“ zu einer Sünde zusammen. Die Reihenfolge änderte er ebenso wie er „Neid“ hinzufügte. Die veränderte Aufzählung lautete nun: „Hochmut, Neid, Zorn, Traurigkeit, Habgier, Völlerei und Wollust“.Im 7. Jahrhundert wurden „Traurigkeit“ durch „Trägheit“ und „Habgier“ durch „Geiz“ neu definiert.

Wenn es in allen Hochkulturen der Welt bestimmte Affekte gab, die in der Werteskala der edleren und der zu überwindenden Neigungen unten standen (etwa: Geiz, Neid, Gier), so werden sie in der globalisierten Kommerzgesellschaft als bisher ungenütztes Kapital des neuen Profits entdeckt: Geiz ist geil – und kann, wie wir das vor allem in den westeuropäischen Demokratien beobachten, politisch scharf gemacht werden.

In der Spaßgesellschaft wird der einzelne nicht mehr im Horizont des Guten oder Bösen vor die Frage nach dem richtigen oder falschen Handeln gestellt, in der Spaßgesellschaft werden wir von der permanenten Aufforderung begleitet, den inneren Erlebnisfaktor durch die Wahl des richtigen Produkts zu steigern. Intensität ist der Gradmesser des gelingenden Lebens, die maximale Erlebnisausbeute wird zum Horizont des persönlichen Erfolgs. Das neue Himmelreich ist der durch den Einsatz rückhaltloser Erlebnisbereitschaft verdiente Eintritt in die heitere Internationale der Endverbraucher. Das Paradigma des Konsums – des Verbrauchs – erstreckt sich auf Gedanken, Empfindungen und Erlebnisse. Lebensentscheidungen sind keine Frage großer Entwürfe, pathetischer Geschichten oder des Engagements für die richtige Sache; die tägliche, permanent kitzelnde Entscheidung ist die über den Ankauf der angemessenen Attribute für das individuell ausgekleidete Bewusstseinsdesign: je minimaler die Gründe für dies oder jenes werden, umso intensiver werden selbst minimale Entscheidungen stilisiert. Zeige mir welche Pizza du aus dem Menü wählst, welches Auto du bestellst, welchen Urlaub du buchst – und ich sage dir, wie es um deine Bereitschaft steht, im Konzert des generalisierten Konsums mitzuspielen. Durch die neue Metaphysik des Verbrauchs verdunstet der alte ernste Mensch.

Während die Jammerbekenntnisse der deutschen Popliteraten den Boden erst bereitet haben für zerrüttete Seelenlandschaften, richten sich Leibergs Bilder aus diesen Rückgratbruch-Halden auf wie Hymnen.

Man hat die Bankrotterklärungen ehemals verwöhnter Wohlstandskinder, die sich nach Führung und Abwechslung sehnen, noch vor Augen und sieht nun diese mal schluchzenden, mal glühenden Formate, in denen, geradezu drehbühnenkompatibel, Leibergs Innenbilder vor Angstbegriffen wie Hölle, Verdammnis, Strafe, Versuchung, Opfer, Sündenpfuhl und Sündenfall durcheinandergewirbelt werden – mit Spritzern und Wischern, den Bewegungen des schlagenden Pinsels und gellenden Farbkontrasten.

„Geiz“ ist ein Zeichen einer Totalvereinnahmung, „Gier“ ein aufgerissenes Schlangenmaul vor einer Hintergrundfigur, die die Selbstverspeisung probt, „Zorn“ ein Paar veitstanzartig zuckender Beine in einer sturmzerzausten Wolke und „Stolz“ eine einsame Figur, die mit ausgebreiteten Armen die Mondsichel zu umfassen sucht.

Tänzer- und Tänzerinnen-Figuren, die noch im Fallen strahlend steigen und ihre Energie ins Publikum schleudern, gibt es in Leibergs Kunst seit frühester Zeit. Seine Zusammenarbeit mit Jazzmusikern und Tanzperformerinnen hat den Kunstkarst der DDR aufgebrochen wie kaum ein intermediales Ereignis der damaligen Zeit und gehört zum Besten dieses Genres.Wenn jetzt Figurenkürzel durch die Szene hüpfen, dann wächst diesen zuweilen der Status zu, etwas Überpersönliches zu personifizieren: „das Weib“, „die Sünde“, „das Begehren“ zu sein – eine Allegorie im Stöckelschuh.

Es können aber auch genügend Bildbeispiele in Leibergs Todsünden-Serie angeführt werden, in denen der Tabubruch allem Anschein nach zweigeschlechtlich ist, etwa in „Wollust / Geilheit / Unzucht“, wo wir auf ein zentral plaziertes weißes Zwitterwesen stoßen, das vor einem kopulierenden Haufen roter  Leiber verharrt und sich in jeder Hinsicht selbst genügt.Ein gutes, zugleich ziemlich deprimierendes Bild, das einen aktuellen Befund unterstreicht: alles ist vorbei. Man könnte auch meinen, dieses Bild zeige einen Crashtest ohne Neigung zum Selbstmitleid.
Leiberg hält am Leben, daß er, notfalls übertreibende, Formeln prägt. Er hat die Kraft, malend Klarheit zu verschaffen, erst recht, wenn er Flächen auf sehr spezifische Weise, mit Pinsellagen, die offene Geflechte ergeben, verdichtet, was er auf diese Art (z.B. in „Trägheit“) erst seit den Jahren 2002/2003 begonnen hat, rückwärtig stabilisiert durch farbgewittrige  Ausbrüche in früheren „Adler“-Bildern, die nach Leibergs USA-Aufenthalt, etwa um 1996/97 entstanden.

Wenn diese Bilder einen aggressiv machen, dann kann das nicht falsch sein, denn es zeigt, daß sie nicht entstanden sind aus Häme und Überlegenheitsgefühl, sondern aus einer Leidenschaft, die am allgemeinen Konsensgefüge rüttelt.