Texte

„Augen auf !!“ lautet der Titel dieser Ausstellung.

Der Berliner Helge Leiberg präsentiert in mehreren Werkgruppen Bilder zum Hingucken, Emblematisches, Malerei zur Verschiebung der Wahrnehmung. Es sind Konfigurationen, die den 2. Blick erfordern, das nochmalige Hinsehen, denn Leiberg operiert mehrheitlich im Hintergründigen. Anders als die pseudokabarettistischen Windmacher der Amüsiergesellschaft tut er das in hysteriefreier Lautstärke, abseits des Phrasenmiefs der hohlen, durch TV und Medien verstreuten Blubber-Geschichten. Doch „Achtung!“ – Leiberg malt weder für Randgruppen, die ihr Leben lang ihre Differenzen zur Gesellschaft performen müssen, noch um die blinden Flecken im politischen Repräsentationstheater zu bereinigen.

Leiberg bereitet den Augen ein Fest, in dem der Betrachter sich unversehens in einen Dialog mit Mythischem, Erotischem und Religiösem verwickelt sieht und verstrickt in komplexe Erwägungen zur Mechanik des Begehrens.

Daß Leiberg auf dem Plakat zur Ausstellung einen Perkussionisten auftreten lässt, verweist überdies auf Leibergs Interesse an Jazz und am Improvisatorischen. Satanische Engel in der Bar, Keyboarder, Bassisten, Saxophonisten, Tänzerinnen und ihr Publikum sitzen zusammen mit dem Künstler in der Jazz-Hölle, die ihr Paradies ist, eben weil dort die Luft brennt, wenn Cecil Taylor, Miles Davis, Charly Parker oder John Zorn, die persönlichen Favoriten Leibergs, auftreten.

Jahrelang hat er in diversen musikalischen Gruppen Trompete und Flügelhorn geblasen, eine nicht unbedeutende Zeit zusammen auch mit A.R.Penck. Er gehört einer Künstlergeneration an, die, aufgewachsen im Osten Deutschlands, Anfang der 80er Jahre rausgeschmissen, sich ihre Freiräume selbstbewusst erstritt und Teil einer Internationale gegen Intoleranz war, ist und wohl auch bleiben wird. Leibergs Form ist die frei schwingende musikalische Form. Von strammer Haltung hält er nichts. „Hört die Signale!“

Das Bild „Bitches Brew“ (von 2005) bezieht sich direkt auf das gleichnamige Doppelalbum von Miles Davis von 1970, dessen Veröffentlichung die Welt aus den Angeln hob. Das war Musik aus einer anderen Welt und bisweilen gar von funkelnder Bösartigkeit, die, als Pendant zu den Rolling Stones auf dem anderen Ende der Skala, das Lebensgefühl einer ganzen rebellischen Generation entscheidend mitprägte, ehe auch sie in den 80er und 90er Jahren peu à peu dem Zeitgeist des schicken Scheins weichen musste.

Davis hat die lyrischsten Soli der Jazz-Geschichte geblasen und die wüstesten Attacken gleichermaßen. Bis heute steht er nach innen wie außen als Synonym für den Jazz schlechthin.
Leiberg malt sein Gefühl, das den frei fliegenden Miles-Davis-Ton zu treffen versucht und in fallenden Soundbällen und Klangschichtungen gleichzeitig in Erinnerung ruft, dass Miles Davis Genie und Kotzbrocken zugleich war, aber auch, dass Risse in einer Persönlichkeit so etwas wie die Grundvoraussetzung für das sind, was große Künstler der Welt als dauerhaftes Vermächtnis schenken.

In „Halali“ (ebenfalls aus dem Jahr 2005) versteckt sich möglicherweise eine Persiflage auf die weißen Trompeter. In einer zweiten Deutungsebene könnte Bezug genommen werden darauf, dass Leiberg als 12-jähriger Knabe im Wald von Oberloschwitz Trompete geblasen und nach streng geführter Lehrstunde häufig seinen Frust ausgelassen hat, was eines Tages zu einer Begegnung mit einem Rehbock führte, der aufgrund wilder Improvisationen des Jungtrompeters erschreckt aus dem Gehölz brach. Ein mit Sicherheit traumatisches Erlebnis für den Zukunftsbock.

Bis heute hält Leiberg daran fest, nicht-erzählerisch und nicht-illustrativ zu arbeiten, eher konträr und ohne Geplänkel, aber in Spannungsbögen. Er ist interessiert an den Zonen der Unbestimmtheit, die entstehen, wenn mentale und manuelle Gewohnheiten zerlegt werden. Ohne eine Einengung auf irgendein philosophisches Korsett, setzt er Bewegung gegen feststehende Entitäten. Seine auf wenige Wischer verknappten Tanzfiguren mit den weit in die Welt ausgreifenden Armen und Beinen sind Phasenbilder eines übergeordneten Suchens nach immer neuen Stimmungssätzen und Konnexionen.

Helge Leiberg steuerte konsequent in alle Richtungen. Seine Arbeit verteilte sich auf Zeichnungen und Bilder, Künstlerbücher, Improvisationsmusik sowie Filmexperimente. Das sog. ”Noisepainting” mit klanggestützten Projektionen, für die Live-Pinselzeichnungen auf Overheadfolien den Ausgangspunkt bilden, ist Leibergs Erfindung für Bild-Klang-Spektakel, die er bereits vor mehr als 25 Jahren in Dresden vorführte, anfangs noch mit weit geringerem Technikeinsatz, heute u.a. in der Zusammenarbeit mit der Gruppe GOKAN. Seine Live-Projektionsmalerei war integraler Bestandteil von Performances wie ”ReJoycin” (aufgeführt 1991 anlässlich des 50. Todestages von James Joyce) oder der Oper ”Der Meister und Margarita” des russischen Komponisten Sergej M. Slonimsky nach dem berühmten Buch von Michail Bulgakow, erarbeitet für den Deutschen Pavillon auf der Expo 2000 in Hannover. Leiberg bediente dort sechs Overheadprojektoren gleichzeitig. Seine zeichnerischen Eingriffe brechen Abläufe, kommentieren, befragen und verwandeln das Stück und schaffen mit diesen Fluchtlinien eine sich in ständiger Transformation befindliche Aufführungspraxis, die auch heutzutage im etablierten Theater selten ist.

Von dieser tänzerischen Lebendigkeit der Linie wird auch Leibergs Malerei belebt und getragen. Lässt man sich Leibergs Bildtitel auf der Zunge zergehen, wird man im bildnerischen Unterfutter einer Energiepackung aus schwarzem Humor, lebenserprobtem Lakonismus und hartgesottener Schonungslosigkeit gewahr. Leibergs Bilder jubilieren, heulen und rumpeln, dass es eine Wonne ist. Also. Schauen Sie 2x hin und ergötzen Sie sich – mal am Drive, mal am bluesigen Stolpern.

Die hiesige Ausstellung versammelt sechzig Bilder in neun Räumen. Außerdem sind vier, das Thema „Bewegung“ befragende Bronzen, zu sehen. Damit bringt die Ausstellung die komplette Produktion der vergangenen fünf Jahre zur Anschauung.

Das Bilder-Konvulut gliedert sich in drei gewichtige Gruppen: In vier Bilder des „Adler-Bild-Zyklus“, in vier sog. „Torsi“-Bilder sowie acht Bilder eines vor etwa 10 Jahren gestohlenen (auf glückliche Weise weitgehend wiederbeschafften Komplexes von 30 Leinwänden, 3 Malerbüchern und gut 500 Zeichnungen), der jetzt den Titel trägt „Diebesgut / geklaut und zurück“.

Darüber hinaus werden weitere wichtige Bilder seit 2001 gezeigt, Leibergs „Apokalyptische Reiter“ (eine Antwort auf die tränenselig hysterische Melodramatik dieses Jahrzehnts), außerdem Bilder, mit biblischen Bezügen in unerwarteten Deutungen, Jazz- und Musikbilder, Bilder mit gestikulierenden Händen, dazu noch ganz neue Leinwände, je 50 x 50 cm groß, die eine erotische Serie ergeben und für die Nischen des Turmzimmer geschaffen wurden, in klassischem Ausdruck Leiberg’scher Mehrstimmigkeit.

Der Einbruch der Lust und deren moralische Abwehr vollziehen sich gleichzeitig in ein und demselben Körper, in ein und derselben Seele. Leibergs Erotik ist subtil durchdacht. Der schöne Klang, die mehrfache Bedeutung. Romanze als die lyrisch-epische Linie, als die ästhetische Form herzrasender Bewegung und nicht zuletzt als der flotte Strich, der ein Techtelmechtel aufdeckt, eine zarte Lovestory rechtzeitig vor der Überpinselung rettet. Leiberg weiß, wann ein Bild zum Höhepunkt kommt und wann er unterbrechen muss. Die Spiele des Begehrens rücken dabei in eine Komplexität vor, in der Lust, Begehren, Sichbewegen und Totentanz in einen Zusammenhang treten.

Leiberg führt uns mit dem sicheren inszenatorischen Griff, den all seine Bilder auszeichnen, ein in herrlich skandalöse Liebesgeschichten, herz- und mäulerzerreißende Affären. Leiberg holt uns aus der Versunkenheit. Er betreibt so etwas wie künstlerische Mund-zu-Mund-Beatmung. Er ist der Virtuose einer Nähe, die etwas Hypnotisches hat. „Komm. Komm. Augen auf!“, lautet seine Beschwörungsformel.

Das Springen, Herumwirbeln, Irgendwo-Hinfallen, der schmale Grad zwischen Geworfenheit und Flucht, atemloser Mitteilung und Verlorensein der Figuren ist direkt gebunden an den Ausfluss der Farbe. Ob dünnflüssig linear-zeichnerisch oder bis zum Relief verdickt-malerisch, stets ist es die heftige Bewegung des Pinsels, die den Dauerzustand eines Lebensgefühls charakterisiert: jenes Gefühls des Abstrampelns und Abtanzens, um Herauskommen aus der Zumutung, aus der Negativität.

Leibergs Tänzerinnen, Akte, Paare, Reiter befinden sich, alles in allem, in einer aktiven und zukunftsoffene Rolle. Serien von Händen und Figuren, Körpern und Figuren vor rein-weißen oder auf aufgewühlten, stark farbigen, lodernden Leinwanduntergründen sind an den Leib gerichtete Produkte, die im Zeitalter der Silikon-Sirenen ganz ohne schlüpfrige Verheißungen auskommen und uns berühren durch die gelungene Symbiose von Gemaltem und Gezeichnetem, die uns vorführt, wie der Geist Fleisch wird.